Laudatio auf Paul Wühr zur Verleihung des Heimrad-Bäcker-Preises 2014

Am 3. Juni 2014 wurde Paul Wühr der Heimrad-Bäcker-Preis verliehen. Die Laudatio hielt der Heimrad-Bäcker-Preisträger 2013 Christian Steinbacher. Der österreichische Autor ist Mitglied der PWG, im Herbst 2014 erscheint sein neuer Band “Tief sind wir gestapelt: Gedichte” im Czernin Verlag in Wien.

Christian Steinbacher
Bis zum ganzen Tag alles ausgrüßen oder Ein Plädoyer für die Poesie als den Rest, der nie stillsteht.
Laudatio auf Paul Wühr zur Verleihung des Heimrad-Bäcker-Preises 2014 (am 3. Juni 2014 im StifterHaus in Linz)

„Stehen bleiben kann ein Falscher nicht, wie gesagt, auch nicht im Falschen: er muß in Bewegung bleiben, er kann sich nirgendwo niederlassen in seiner Rede, die, wenn sie die schwankende, schaukelnde oder gar rotierende Rede ist, von sich sagen kann, sie sei Poesie […]“ – soweit vorab ein Zitat aus einer Vorlesung des Preisträgers mit dem Titel Das Falsche und die Lüge.
Werden die Möglichkeiten sprachlicher Bedeutungsfixierung im Rahmen von Diskurstheorien relativiert, so geschieht dies in gebräuchlichen Sätzen. Ein Aufbrechen von Verfestigung ist ebenso einem Paul Wühr ein Anliegen. Als Poet vollzieht er dies aber auch direkt, also am Körper des Textes. Und so brechen etwa in Gedichten Wortfolgen ab, bevor sie sich zu sehr in eine zu eindeutige Satzform schicken. Kein Versteckspiel ins Unleserliche stehe dabei aber heran, hege dieser Autor ja, nach seinen eigenen Worten, einen „Unglauben an das Unleserliche“. Und die Brüche und Überlappungen in seinen Verwerfungen sind als solche ja herausgearbeitet und allein schon deshalb lesbar. Und das selbst dort, wo im Wechsel zwischen verschiedenen Sprachverwendungen Sackgassen in der einen Lesart zu Wegen in der andern werden, wie Lutz Hagestedt feststellt, der als Charakteristikum solchen Arbeiten eine Nicht-Identität zuspricht, die es erlaubt, immer weitere Differenzerfahrungen zu ermöglichen. Alles habe wider alle Fixierung lebendig gehalten zu sein, könnte man da ausrufen für einen Wühr.
Mit Paul Wühr wird ein Autor ausgezeichnet, der nach mehreren Hörspielen als einer seiner Pioniere zu Ende der 1960er-Jahre die Form des O-Ton-Hörspiels erarbeitet, ein Autor, der mit seinem Buch mit dem kuriosen Titel Das falsche Buch ein eine ganze Dekade des vorigen Jahrhunderts auf diverse Weise belachendes, alle Genres verquirlendes „Romantheater“ entwickelt, und ein Autor, der mit dem 800 Seiten starken Entwurf seiner poetischen Republik aus dem Jahr 1997, in der er über ein Ausbalancieren der Widersprüche alle dort thematisierten Hierarchien außer Kraft zu setzen versucht, seine Arbeit am Gedicht ins Polykontextuelle erweitert und dieses flächige Prinzip für die folgenden Gedichtbände Venus im Pudel und Dame Gott nochmals variiert hat. … Nicht aus jenen großräumigen Arealen aber wird der Gepriesene im Anschluss kurz lesen, sondern aus dem 1988 erschienenen Gedichtzyklus Sage. Ein Gedicht, für den er Verfahren aus den Gedichtbüchern Grüß Gott ihr Mütter ihr Väter ihr Töchter ihr Söhne und Rede nochmals radikalisierte.
In ersterem enthalten ist als eines meiner Lieblingsgedichte das folgende, das ich nun kurz wührgerecht vorzutragen versuche: „Grüß Gott Herr Kafka / werde ich sagen schaun’s / hinter sich / weil ich mit dem hinter Ihnen red’ / sozusagen über Ihren schweren / Kopf red’ ich mit mir / mit meinesgleichen sozusagen schweren / Herzens und während zwischen / unseren Füßen so der Wurm / seiner Wege bohrt.“ Dieses Gedicht habe ich für eine anagrammatische Umschrift herangezogen, die ich dem Paul zu seinem 85er geschickt habe: 5 weitere Gedichte, die, dabei die Tonlage des Kollegen aufnehmend, jeweils ganz und nur aus den Buchstaben dieses Gedichts bestehen. Das erste dieser 5 sei nun, sodass auch solch persönlichere Seiten anklingen dürfen, zitiert. Es lautet: „Was wollt dein Kaftan / denn wurmen frag aus ich ihre / ersten Zedern zu wischen der / Dirn ihr Hemdchen zurück nehm / er’s unterm Münchener Wirsing / heisch er kein Heimsen / wo sie sich wiegen ihr / Messer ob’s gar rund geh / so hätt’s noch gesessen erst / über sich wie gezopft.“ … Behalten wir das letzte Wort für eine spätere Stelle im Sinn hier: gezopft!
Nun aber zu Wührs Sage: Noch sind die späteren Kompendien nicht im Blick, noch geht es ihm ganz um Text als Organismus. Darum wissend habe ich als junger Dichter einmal die Hebungen und Senkungen eines Poems der Sage nachzuzeichnen versucht, und siehe: keine Verszeile glich rhythmisch der andern. Dass es die ursprüngliche Unordnung wiederherzustellen gelte, plädierte der Paul Wühr der damaligen Arbeiten programmatisch. Wie ineinander gebogen oder auch gerieben muten die Verspaare der Wühr’schen Sage an, und sie evozieren eine sich in ihre eigene Auflösung dynamisierende Bewegung („da fliegen wir nur so durch / die Sage // bis es keine mehr gibt“ ist zu lesen) genauso wie eine Folge an Konvulsionen, die dann eine Gestik der Wut mit zur Darstellung bringen will. (Oder soll ich sagen: „aus-rufen lässt“, und das im doppelten Wortsinn? „[B]is zum ganzen Tag / alles ausgrüßen“ heißt es im Gedicht mit dem Titel „Aussagen“. Also grüßen, bis es vorbei ist. Oder „[b]is du dich bleiben / läßt“, wie es in einem anderen Gedicht der Sage mit dem Titel „Du“ heißt. Nicht du es oder mich, sondern, Gewohntes aushebelnd: du dich. Und kein jüngster, sondern ein „ganzer“ Tag. Und aufs „ausgrüßen“ folgt nach einer Leerzeile „austanzen“.)
(Identität existiere hier in der ständigen Bewegung des Entziehens, schrieb Thomas Betz, der zum Falschen Buch bemerkt, dass das Bewegungsvokabular des Balletts dort nicht nur ausschließlich dem Alter Ego des Autors vorbehalten sei, sondern entgegen all den anderen Systemen in dem Text auch nicht dekonstruiert werde. Dass dort, indem es der Polizei den Einsatz verleide, akkurat das als kompatibel mit autoritärer politischer Struktur geltende, ordnungsfixierende System Ballett eine anarchische Funktion bekomme, ist eine feine Beobachtung des Thomas Betz zu dem Worttänzer Wühr, der in Sage auch eine Art von Austanzen betreibt, bis an ihrem Ende, nach Reinhard Kiefer, nur noch ein namenloses Sein stehen kann.)
Derzeit wird an einer Übersetzung der Sage ins Italienische gearbeitet. Für mich persönlich ist Paul Wührs Wahl einer Kostprobe aus Sage eine Freude aber auch, weil ich mich so erinnern darf, bin ich doch als wesentlich später Geborener mit meinen 28 Jahren erst Herbst 1988 bei den Innsbrucker Wochenendgesprächen dem damals 61-jährigen Autor erstmals begegnet. Und diese erste kurze Begegnung, bei der mich Paul mit seiner Emphase in Gespräch wie Lesung beeindruckt hat, war nicht nur eine markante, sondern auch eine im heutigen Jargon gesprochen „nachhaltige“. Im Folgejahr las er dann auf meine Einladung hier in Linz in der Künstlervereinigung MAERZ eben aus seiner Sage, aus der wir 25 Jahre danach erneut etwas hören dürfen.
Lenken wir aber nochmals aufs Ganze: Es gibt Konstanten im Werk des Paul Wühr. Hagestedt verdanken wir den Hinweis, dass schon in den frühen Oden und Hymnen der ersten Nachkriegsjahre eigene und fremde Texte zerstückelt und deren Fragmente umgruppiert und umsemantisiert werden und dass dabei schon verschiedene Sprachschichten aus verschiedenen Zeiten nebeneinander Platz finden.
Manche Prinzipien also begleiten und durchziehen dieses Werk: das des Untergrabens von Wahrheitsansprüchen etwa, oder das des Verdrehens und Verkehrens von Vorgegebenem, was dann Michael Vogt zufolge aber auch zu einem Primärzustand poetischer Potentialität führe. Vergessen wir nicht: Stehen die Figuren der so genannten Pseudos auf wider ihren Schreiber im Falschen Buch, so bleibt letztlich doch der Autor es, der sie als Aufbegehrende gesetzt hat. Mithin lässt ihn das am Versuch, in seinem Text zu verschwinden, scheitern, aber so, dass dies Scheitern ebenso, und obgleich Verfehlung als Ziel eigens mit aufgerufen wird, bloß ein inszeniertes sein kann und so weiter. Ein Dilemma? Eher das Herausarbeiten des in der Poesie stets gleich notwendigen wie zweckfreien Stehenlassens bestens unauflösbarer Widersprüche, möchte man hier rufen für diesen Wühr.
Wenn das Modell vom „Tod des Autors“ darauf ziele, die Materialität der Sprache in den Vordergrund treten zu lassen, und das im Kontrast zum theologischen Modell eines souveränen Autors, also eines, dem die Sprache noch zu Gebote stehe, so weist Renate Kühn darauf hin, dass Wühr es nun gelinge, auf beide dieser zwei divergenten Modelle zu rekurrieren, indem er sich wie so oft quer- und sogar betreffend diese beiden Grundeinstellungen das sich Ausschließende neben- bzw. gegeneinander stelle, was dann ermögliche, die blinden Stellen im jeweiligen Modell sichtbar zu machen.
Du rüttelst also an den Gegensätzen, ohne ihre Synthese anzustreben, lieber Paul. Einer Anmerkung Jürgen Nelles folgend könnte man aber auch sagen, dass es dir da auch mehr ums Ausmessen des Freiraums zwischen gegensätzlichen Positionen als Spielraum gehen dürfte. Und somit wären wieder einmal Freiheit und Freiraum aufgerufen als Säulen einer Poesie, und das im Konnex mit Spiel-Raum. Oder überhaupt Raum, bedenkt man die in deinem Schreibzimmer gehangenen Pläne, die dir deine Großprojekte ins Flächige ausbreiten geholfen haben. Und ins Flächige heißt, dass dann alle Zeiten gleichzeitig auf einer Ebene stattfinden, worauf du beispielsweise einen Gotthold Ephraim Lessing in deiner ‚poetischen Republik‘ mit dem Theodor Lessing, der des früheren Lessing aufklärerisches Denken mit seiner realpolitischen Erfahrung des späteren Lessing konterkariert, ins Gespräch bringst, wozu der 1933 in Marienbad ermordete Theodor Lessing – „Und beiden kann das / eine Volk in einem Staat / gestohlen bleiben“ ist zu lesen – jedoch als ausgewanderter israelischer Jude auftritt.
Einen Aspekt möchte ich noch hervorkehren, nämlich den einer „Anmutung im Ungelenken“, wie ich es versuchsweise nennen will. Denn auch wenn man bedenkt, dass zwar das Knarren eines Textes von einer herkömmlichen Ästhetik gerne dem Verfehlenden und somit auch dem Falschen zugerechnet werde, es allein schon wegen seiner subvertierenden Funktion ein so genannter Falscher aber dort ebenso gerne verortet sehe, verbleibt als die von solch delikaten Verortungsvorliebensüberschneidungen unberührte Frage die, wie denn sonst sich ein Schwanken, Schaukeln und Rotieren, so wie wir es eingangs für die Rede der Poesie hier genannt bekommen haben, im Tonfall machte. „Jeder Satz muß sich krümmen. Keine Zielgerade für Ausdenken“, heißt es an einer Stelle der eingangs zitierten Wühr’schen Vorlesung. Und obgleich das Ausdenken es ist, dem dort die Verweigerung des Zieleinlaufs zugewiesen wird, verhält es sich doch nicht so, dass dabei stets nur ein wie immer zu Denkendes im Visier stünde, sondern wohl um nichts geringer die (ein Aushebeln mitverursachende oder ergänzende) Materialität eines mit Vergnügen immer wieder kontaminierten Sprachkörpers, sei ja Wührs Drang zum Unterlaufen von zu Erwartendem, ganz so wie auch sein Hang zum Verformen im Formen, von der Seite einer anarchischen Lust her gleichfalls zu fassen. Zum einen also die Verkehrung von Kontexten und das Aushebeln von Hierarchien sowie ein Plädoyer für den Fehler und für das Falsche in ihrer Funktion des als stets notwendig erachteten Korrektivs von Macht und Hierarchie, und zum andern eine lustvolle Ein- und Auflösung direkt am Material.
In einem unlängst erschienenen Band des Münchner Lyrikkabinetts findet sich neben einer Übertragung des Gedichts „The Hound of Heaven“ von Francis Thompson durch Paul Wühr auch Wührs Anmerkung, dass er das Urbild seiner Poesie zwei Versen des von Theodor Haecker ins Deutsche übertragenen „Himmelhund“-Gedichts Thompsons verdanke, nämlich: „Mit unsrer Mutter wirren Flechten spielend Kind […] / In ihrem Schlosse, dessen Wände Winde sind“ … Zusammen mit dem Wunsch, dass für uns wie für ihn, der sich noch Tag für Tag zum Schreibtisch begibt – und der Heimrad-Bäcker-Preis wird, wenn ich das so richtig sehe, auch im Sinne einer Ermunterung und nicht etwa nur für ein vergangenes, sondern mit für das aktuelle Tun verliehen – sein Projekt mit dem Titel Der wirre Zopf (als Nachfolger des ebenso die Tage mehrerer Jahre zu Schlingen drehenden ersten Tagebuchs mit dem um nichts weniger bezeichnenden Titel Der faule Strick) nicht erst in gar zu ferner Zeit das Licht einer Buchpublikation erblicken wird, möchte ich zum Ende kommen. Wie aber aufhören bei einem, der das Paradigma von Anfang und Ende, und das bis zum Konterkarieren der eigenen Verweigerungsbemühungen, immer wieder unterlaufen hat? ‚Nebeneinanderstehen machen‘; ‚Freudiger Umgang mit Aporien‘; ‚Etwas unaufgelöst lassen‘ – so etwa könnten Devisen lauten, die dann bleiben mögen für den Autor so wie für uns, seine Leserinnen und Leser, denen die Poesie derlei Devisen ebenfalls an Geist und Herz legen will, da nach Wühr die Poesie es ja ist, die immer wieder über bleibe als der Rest, der nie stillsteht.
Aus seiner Sage wird Paul Wühr nun kurz vortragen. Zuvor freue ich mich innig, dir, lieber Paul, als jüngerer Kollege, Freund und heute auch Laudator gratulieren zu können.

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