Thomas Betz: Porträt Paul Wühr
Paul Wühr, geboren am 10. Juli 1927 in München, zählt zu den bedeutendsten Autoren experimenteller Gegenwartsliteratur. Sein Werk umfasst Hörspiele (1963–1968) und Originalton-Hörspiele (1970–1976, 1986, 1989), große, mit den Gattungen spielende Prosa-Poeme (Gegenmünchen, 1970; Das falsche Buch, 1983; Luftstreiche, 1994), Tagebuch-Kompositionen (Der faule Strick, 1987) und Gedicht-Bücher (Grüß Gott […], 1976; Rede, 1979; Sage, 1988; Salve Res Publica Poetica, 1997; Venus im Pudel, 2000; Dame Gott, 2007). Ein Werk, dessen Poesie auf das Ganze zielt.
Wühr, Sohn eines Bäckers aus der Münchner Maxvorstadt, schrieb seit 1939, begann mit Gedichten. Abseits der deutschen Nachkriegsliteratur entstanden ab 1947 hymnische Gedichte sowie Romane, die unveröffentlicht blieben. Zwei Kinderbücher, Der kleine Peregrino (mit Bildern von Walter Habdank) und Basili hat ein Geheimnis (mit Bildern von Lilo Fromm) erschienen 1960 und 1964. Bekannt wurde Wühr mit einer Reihe von Hörspielen (1963–1968), die – im Vorfeld des »Neuen Hörspiels« beim WDR – in brisanten Figurationen Identität und Grenzen der Person kalkuliert durchspielen und aufbrechen. Schon Das Experiment (1963) verhandelt das Projekt einer Selbstwerdung, einer Identitätserneuerung zwischen Abweichung und Norm. Die Selbstverwirklichungsversuche in diesen Hörspielen zielen auf die Umkehrung von Hierarchien; Sprechen erweist sich als Handeln, besonders deutlich in Fensterstürze (1968), das die Konkurrenz zwischen Erfundenem und Erfinder zum Extrem treibt.
Wührs erstes großes Poem Gegenmünchen, 1970 bei Hanser erschienen, ist eine vielstimmige und typographische Inszenierung von Gedanken-Gängen und sinnlichen Sprach-Aktionen. Mit einer – seither für Wührs Œuvre charakteristischen – Schnitttechnik und Kombinatorik werden Zeitschichten und die 1968er-Gegenwart, Räume und Diskurse zum Gegenbewusstsein einer »Wörterstadt« vernetzt. Die Verfahren aus Brüchen, Verdichtungen und Verwandlungen hat Wühr 1970 bis 1976 fortgeführt in O-Ton-Hörspielen, angefangen mit Preislied (1971), für das er den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielt. Die fragmentarische Melodie und die Rede-Figurationen der O-Ton-Hörspiele (schriftlich gesammelt in So spricht unsereiner, 1973) erweiterte er in Soundseeing Metropolis München (1986) und Faschang Garaus (1988) zu vielschichtigen Klangbildern.
Eine Fortschreibung des Stadtbuches – für die Szene der 70er Jahre – lieferte Wühr auch in Das falsche Buch (1983), einem großen »Romantheater« in 352 Kapiteln, das mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Die Verkörperung und Vervielfachung der Autor-Figur mit seinen Geschöpfen im selbstgeschaffenen Buchprojekt auf dem Spielplatz der Münchener Freiheit macht mobil gegen Richtigkeit behauptende Positionen. So wie die poetologische Tagebuchkomposition Der faule Strick (1987) und sein letztes, unveröffentlichtes Großprojekt »Der wirre Zopf« lassen sich alle Poeme Wührs auch lesen als Chronikbücher aktueller Gegenwart, in die unerledigte Vergangenheiten hineinzitiert werden. »Ich habe aber die Zeit aufgehoben«, so Wühr, »um sie zu schreiben.«
Zunächst und zuletzt ist Wührs Poesie immer »Rede«: sich erweiternd zu Figurationen, Szenen und Denkspielen. Das zeigen in immer wieder neuer Form seine Gedichtpublikationen: Grüß Gott ihr Mütter ihr Väter ihr Töchter ihr Söhne (1976) in den Brüchen und Verschlingungen der Sprechsituationen, Rede. Ein Gedicht (1979) und Sage. Ein Gedicht (1988) als Körperreden mit brisanten Stoffmischungen in gebrochenem Gesang, zuletzt Salve Res Publica Poetica (1997), Venus im Pudel (2000) und Dame Gott (2007), drei großangelegte zyklische Gedicht-Bücher, in denen – in unablässigen Durchgängen und Umspielungen – Staat, Herrschaft, Schuld, Freiheit, Miteinander, Liebe und Erotik sowie die Frage nach einem göttlichen Gegenüber radikal durchdacht werden. Diese vergangene und gegenwärtige Stimmen ins Gespräch bringende Poesie beansprucht eine gesellschaftliche und utopische Funktion, ohne als ›Universalpoesie‹ Sinn zu stiften und Geltung zu erlagen. Ihr produktives Scheitern erweist sie in der Fortführung des Gesprächs.
Wührs sprachreflexives, Gattungsgrenzen überspielendes Werk ist Redekunst, arbeitet aber nicht für das Theater. Pyramus und Thisbe. Eine Teichoskopie (1986) etwa verweigert Figurencharaktere, Handlung und Bühnenillusion, bedient nicht den Zuschauer: »Der ganze Mensch ist als Leser die Bühne. « Als mündliche Rede und bewegliche Schrift mischt sich die Poesie – auch politisch und philosophisch – ein in die herrschenden Diskurse. In ihrer (Selbst-)Darstellung bei Wühr ist die Poesie radikal kreativer Entwurf gegenüber den Ordnungen des Lebens und – in Konkurrenz zu aktueller Wissenschaft und Theorie – eigenständige Erkenntnisform. Nur als aktivem Mitspieler realisiert sich dem Leser und Hörer die gebrochene und verschlungene Vielstimmigkeit von Wührs Poesie; sie lädt ihn ein »wohin er will, wenn es nur darüber hinausgeht«.
Paul Wühr, mit Inge Poppe 1973 Mitbegründer von Deutschlands erster Autorenbuchhandlung und seit 1979 Mitglied des Bielefelder Kolloquiums Neue Poesie, lässt sich in keiner Phase seines Werks einer literarischen Gruppe oder Richtung zuordnen. Der schon von Helmut Heißenbüttel gerühmte Einzelgänger lebte seit 1986 in Passignano (Umbrien) mit Blick über den Trasimenischen See. Dort ist er kurz nach seinem 89. Geburtstag am 12. Juli 2016 gestorben. »Ich verlasse mein München niemals«, behauptet freilich die personifizierte Poesie in Luftstreiche. Ein Buch der Fragen (1994). So bleibt München – erweitert, mit Orten besetzt, von Zeitsprüngen durchzogen – Knotenpunkt seines poetischen Streckennetzes.
Der Dichter wurde unter anderem 1990 mit dem Petrarca-Preis und dem Ernst-Meister-Preis, 1997 mit dem Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ausgezeichnet. 2001 wurde ihm der F.-C.-Weiskopf-Preis der Berliner Akademie der Künste und 2002 der Hans-Erich-Nossack-Preis zugesprochen. 2003 verlieh ihm die Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld die Ehrendoktorwürde. Zuletzt erhielt er 2007 den Ernst-Jandl-Preis für Lyrik und 2014 den Heimrad-Baecker-Preis. Sein Werk ist seit 2012 als Vorlass im Marbacher Literaturarchiv zugänglich.
In Reden, Poetikvorlesungen, Interviews und Selbstgesprächen demonstrierte Wühr seine Poetik des »Falschen«. Denn sein lebenslanges »Exercitium« war es, die Poesie neu zu erfinden. Mit dieser Radikalität wurde er zur Leitfigur jüngerer experimenteller Autoren: »Mehr als alles Erfundene nämlich ist noch immer nicht genug.«
Werke (Auswahl):
Das Experiment (Hörspiel, WDR, 14. 9. 1963). Text in: Paul Wühr Jahrbuch 1997, Aachen (Rimbaud Verlagsgesellschaft) 1997 (ISBN 3-89086-821-5), S. 9–49.
Wer kann mir sagen, wer Sheila ist? (Hörspiel, WDR, 22. 1. 1964). Text in: wdr Hörspielbuch 1964, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1964, S. 45–83, sowie in: Paul Wühr Jahrbuch 1998, Aachen (Rimbaud Verlagsgesellschaft) 1999 (ISBN 3-89086-788-X), S. 11–58.
Die Rechnung (Hörspiel, WDR, 19. 8. 1964). Text in: wdr Hörspielbuch 1965, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1965, S. 87–121, sowie in: Paul Wühr Jahrbuch 1999, Aachen (Rimbaud Verlagsgesellschaft) 1999 (ISBN 3-89086-768-5), S. 31–69.
Gott heißt Simon Cumascach (Hörspiel, WDR, 7. 12. 1965). Text in: Paul Wühr Jahrbuch 2000/2001, Aachen (Rimbaud Verlagsgesellschaft) 2003 (ISBN 3-89086-704-9), S. 8–49.
Die Hochzeit verlassen (Funkerzählung, Deutschlandfunk, 6. 8. 1966). Text in: Rundfunk und Fernsehen, 1966, H. 4, S. 485–491. Buchfassung: Es war nicht so, München (Renner) 1987 (ISBN 978-3-921499-94-8).
Wenn Florich mit Schachter spricht (Hörspiel, WDR, 21. 3. 1967). Text in: Paul Wühr Jahrbuch 2002/2003, Aachen (Rimbaud Verlagsgesellschaft) 2005 (ISBN 3-89086-646-8), S. 8–48.
Fensterstürze (Hörspiel, WDR, 10. 4. 1968). Text in: wdr Hörspielbuch 1965, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1965, S. 87–121.
Gegenmünchen, München (Hanser) 1970.
So spricht unsereiner. Ein Originaltext-Buch. Nachwort von Jörg Drews (enthält Texte der O-Ton-Hörspiele: Preislied, BR/NDR 4. 6. 1971; So eine Freiheit, SFB 16. 6. 1992; Trip Null, BR/NDR, 2. 11. 1973; Verirrhaus, BR/WDR, 2. 6. 1972), München (Hanser) 1973 (ISBN 3-446-11724-5).
Preislied. Hörspiel aus gesammelten Stimmen. (1971). Mit einer Rede des Autors: Die Entstehung des »Preislieds«, Stuttgart (Reclam) 1974 (= Universal-Bibliothek Nr. 9749) (ISBN 3-15-009749-5).
Viel Glück (Hörspiel, BR, 3. 9. 1976).
Grüß Gott ihr Mütter ihr Väter ihr Töchter ihr Söhne. Gedichte, München (Hanser) 1976. Rede. Ein Gedicht, München (Hanser) 1979). Neudruck der beiden Bände unter dem Titel: Gedichte (Grüß Gott. Rede. Gedichte), München (Hanser) 1990 (ISBN 3-446- 16042-6).
Das falsche Buch, München (Hanser) 1983 und Frankfurt/M. 1985 (Fischer Taschenbuch 5944 (ISBN 3-596-25944-4).
Soundseeing Metropolis München (Hörspiel, WDR 21. 10. 1986).
Der faule Strick, München (Hanser) 1987.
Pyramus und Thisbe. Eine Teichoskopie. In: Wolfgang Bauer, Ingomar Kieseritzky, Jürg Laederach, Jutta Schutting, Ginka Steinwachs, Urs Widmer, Paul Wühr: Nachtzettel. Sieben Theatertexte nach Shakespeares ›Ein Sommernachtstraum‹. Hrsg. von Sissi Tax und Herbert Wiesner, Berlin (Literaturhaus Berlin) 1987 (= Texte aus dem Literaturhaus Berlin 1) (ISBN 3-926433-00-0), S. 67–89. Als Lesung (Sprecher: Peter Fitz) gesendet vom SFB, 16. 6. 1987. Als Hörspiel (Regie und Sprecher: Peter Fitz) unter dem Titel Thisbe und Thisbe, NDR, 7. 11. 1987.
Sage. Ein Gedicht, München (Renner) 1988 (ISBN 978-3-921499-98-6).
Faschang Garaus (Hörspiel, WDR, 7. 2. 1989).
Das Falsche und die Lüge; Authentizität und Fiktion; Anmerkungen zur Poesie (»Wiener Vorlesungen zur Literatur«), in: Wespennest, Heft 74 (1989), S. 41–58. Buchausgabe: Das Lachen eines Falschen. Wiener Vorlesungen zur Literatur. Mit Bildern von Jürgen Wolf. Hrsg. von Thomas Betz und Katja Schneider, München (K. Kieser) 2002 (= écart 1) (ISBN 3 935456-04-2).
Wenn man mich so reden hört. Ein Selbstgespräch, aufgezeichnet von Lucas Cejpek, Graz, Wien (Droschl) 1993 (= Essay 20) (ISBN 3-85420-351-9).
Luftstreiche. Ein Buch der Fragen, München (Hanser) 1994 (ISBN 3-446-17850- 3).
Absolut Homer, in: (Walter) Grond (Hrsg.): Absolut Homer, Graz, Wien (Droschl) 1995 (ISBN 3-85420-410-8 ), S. 547–584.
Salve Res Publica Poetica, München (Hanser) 1997 (ISBN 3-446-18963-7).
Venus im Pudel, München (Hanser) 2000 (ISBN 3-446-19855-5).
Tanzschrift. Paul Wühr, Gedichte. Hans Baschang, Zeichnungen, (= Band 2 der reihe zwei, herausgegeben von Matthias Kußmann), Karlsruhe (Verlag Ralf Stieber) 2000 (ISBN 3-9802029-5-X, einmalige Auflage von 250 Exemplaren, Vorzugsausgabe und Normalausgabe).
Leibhaftig. Ausgewählte Gedichte, Aachen (Rimbaud Verlagsgesellschaft) 2001 (= Lyrik Taschenbuch 24) (ISBN 3-89086-724-3).
Was ich noch vergessen habe. Ein Selbstgespräch, aufgezeichnet von Lucas Cejpek, Graz, Wien (Droschl) 2002 (= Essay 20) (ISBN 3-85420-594-5).
Il corpo e la parola (Ausgewählte Gedichte). Zweisprachige Ausgabe. Hg. und Übersetzung von Riccarda Novello, Mailand (Crocetti) 2002 (= Lekythos 36) (ISBN 88-8306-078-4).
An und Für. Gedichte, München (Hanser) 2005 (ISBN 978-3-446-20473-7)
Matière à l’autre bout l’esprit. Auswahl [aus Salve Res Publica Poetica], Übersetzung und Nachwort Jean-René Lasalle, Montpellier (Grèges) 2006 (ISBN 2-915684-01-4).
Dame Gott, München (Hanser) 2007 (ISBN 978-3-446-20820-9).
Zur Dame Gott. Mit einem Nachwort von Franz Josef Czernin, Graz, Wien (Droschl) 2002 (= Essay 61) (ISBN 978-3-85420-759-7).
Francis Thompson: Der Himmelhund und andere Gedichte. Ins Deutsche übertragen nach einer Interlinearübersetzung von Holger Klein durch Paul Wühr, München (Lyrik Kabinett) 2009 (= Lyrik Kabinett 10) (ISBN 978-3-938776-21-6).
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Lyrik bei Hanser. Drei Autoren lesen ihre Gedichte. Horst Bienek, Michael Krüger, Paul Wühr. (Paul Wühr liest aus Grüß Gott […]), (Schallplatte, M 33), München (Hanser) 1976.
Soundseeing Metropolis München. Klangbild (Toncassette, 52 Min.), München (Kirchheim) 1987 (Fax 0049-(0)89-260 55 28, ISBN 3-87410-026-X).
Ich unterstehe mich. Gedichte. Gelesen von Paul Wühr (CD, 75 Min.), München (DerHörVerlag) 1998 (ISBN 3-89584-565-5).
Paul Wühr liest Venus im Pudel. Gedichte. (CD, 78 Min.), München (Verlag Autorenbuchhandlung) 2000 (ISBN 978-3-9800697-0-0)