Vom 9. November 2014 bis zum 1. Februar 2015 war in der Bibliotheca Reiner Speck zu Köln die Ausstellung „Wenn ich schreibe, atme ich in der Poesie“ [1] zum Gesamtwerk von Paul Wühr (1927-2016) zu sehen. Ausgerichtet wurde die Ausstellung im Auftrag der Paul-Wühr-Gesellschaft, die Kuratoren waren die Verfasserin dieses Berichts, Thomas Betz, Prof. Dr. Wolfgang Lukas und Arthur Pyrskala, Gastgeber war der Kunstsammler, Mediziner und Publizist Prof. Dr. Reiner Speck. Die Gesamtschau auf das umfangreiche Werk Wührs war unterteilt in die Sparten Hörpoem, Gedichtpoem und Prosapoem. Im Fokus stand dabei – die Benennungen deuten es bereits an – das Phänomen der Gattungsüberschreitung in Wührs Werk, aber auch dessen Potential zu Norm- und Tabu-Bruch. Über diese drei gattungsspezifischen Abteilungen wurde außerdem der ausgeprägten Intertextualität in Wührs Schaffen eine eigene Sektion gewidmet, so dass sich die Ausstellung in insgesamt vier thematische Hauptblöcke gliederte.
Innerhalb der Abteilung ‚Hörpoem‘ waren Paul Wührs 15 Hörspiele in drei Phasen unterteilt: in die ‚Denkspiele‘ der 1960er Jahre (angefangen bei Das Experiment 1963 bis hin zu Fensterstürze 1968), in die wegweisenden Originalton-Hörspiel-Collagen der 1970er Jahre (Preislied 1971, vgl. Abb. 9; Verirrhaus 1972; Trip Null 1973; So eine Freiheit 1973/1992, vgl. Abb. 1) und in Wührs Klangcollagen der 1980er Jahre. Der Spezialfall der sog. akustischen ‚Teichoskopie‘ Thisbe und Thisbe (1987) wurde in seiner Autoreflexivität zu Wührs Fensterstürzen in Beziehung gesetzt.
In der Abteilung ‚Gedichtpoem‘ wurden neben Wührs weitgehend unbekannten Oden und Hymnen der 50er Jahre (z.B. der Privatdruck Terra Nova oder der unveröffentlichte Zyklus Satanien) und seinen Poemen aus den 70ern (darunter das kartographische Großpoem Gegenmünchen, vgl. Abb. 2) seine monumentalen Gedichtzyklen vorgestellt (Dame Gott 2007; Salve res publica poetica 1997; Venus im Pudel 2000, vgl. Abb. 3). Ein besonderer Schwerpunkt galt dabei dem Zyklus Sage (1988; Petrarca-Preis) und Berührungspunkten zu dem von Wühr hoch verehrten Werk Francesco Petrarcas, welches in der Sammlung der Bibliotheca Speck eine zentrale Rolle einnimmt und auf welches auch das für die Ausstellung titelgebende Zitat Wührs (siehe Fußnote 1) Bezug nimmt.
Unter dem Titel ‚Prosapoemen‘ waren wiederum Wührs Kinderbücher der frühen 60er Jahre, sein ‚Romantheater‘ Das falsche Buch (1984, vgl. Abb. 10) und die antichronologischen Tagebuch-Kompositionen Der faule Strick (1987) und Der wirre Zopf zusammengefasst (letztere im vollständigen Original-Manuskript, vgl. Abb. 5). Dabei wurden – dem besonderen Ort und der Sammlung des Gastgebers Rechnung tragend – u.a. auch autobiographische Bezüge zu Reiner Speck und intertextuelle Bezüge zu Leben und Werk von Marcel Proust beleuchtet. Einen wichtigen Unterbereich bildete darüber hinaus Wührs ‚Poetik des Falschen‘, die anhand poetologischer Schriften und Reden (vgl. Abb. 4), aber auch anhand des narrativen ‚Buchs der Fragen‘ Luftstreiche (1994) offen gelegt wurde.
Die vierte Abteilung ‚Intertextualität‘ widmete sich schließlich Wührs Praxis einer ‚Wissenspoesie‘, die sich dadurch auszeichnet, dass darin fremde Inhalte aus Wissenschaft, Philosophie und Literatur transformiert dem eigenen Werk einverleibt werden (das sog. ‚falsche Zitieren‘). Diese wuchernde Bezüglichkeit in Wührs Werk wurde durch die Präsentation von Referenztexten des Falschen Buchs (vgl. Abb. 6) und der Luftstreiche aufgezeigt, durch die mikroskopische Sicht auf einzelne Textausschnitte und deren genaue Zusammensetzung (vgl. Abb. 12/13), durch die Demonstration der intertextuellen Struktur des Großpoems Salve res publica poetica mittels Planskizzen und Partituren (vgl. Abb. 19) und durch das Beleuchten von Wührs poetischen Haupt-‚Gesprächspartnern‘ Johann Georg Hamann und Alfred North Whitehead. Außerdem wurde Paul Wühr in dieser Abteilung auch als kartographischer Leser der Stadt München in diversen seiner Werke vorgestellt (vgl. Abb. 11). Zwei zentrale Themenfelder Wührs wurden ebenfalls exemplarisch präsentiert, nämlich die der Sexualität und der Religion (vgl. Abb. 7). Darüber hinaus kam Paul Wühr in dieser Abteilung als literarischer Vernetzer zur Geltung, insbesondere am Beispiel der Autorenbuchhandlung in München, die er zusammen mit seiner Frau Inge Poppe-Wühr 1973 gründete.
Ausgestellt war äußerst vielfältiges, teils noch unveröffentlichtes Material unterschiedlicher Herkunft: Handschriften und Zeichnungen, Printmedien, Objekte, Urkunden, Fotografien und Audio- und Filmmaterialien, u.a. aus dem Vorlass von Paul Wühr im Deutschen Literaturarchiv Marbach, aus dem Privatbesitz des damals noch lebenden Autors, aus dem Besitz des Kunstsammlers Reiner Speck und aus diversen Sender- und Verlags-Archiven. Es handelte sich weitgehend um erstmalig gezeigtes textgenetisches, entstehungs- und rezeptionsgeschichtliches Material. Ein Highlight waren neben den vielfältigen Manuskripten in den verschiedensten Entwurfsstadien (vgl. z.B. Abb. 14/15) mit Sicherheit die zahlreichen durchgearbeiteten Bücher aus Wührs Privatbibliothek mit handschriftlichen Kommentaren (vgl. Abb. 7/8), welche einmalige Einblicke in die Dichterwerkstatt boten und die für Wührs Gesamtwerk maßgeblichen Verfahren der Selektion, der Dekontextualisierung und der Fragmentierung von Sätzen und ihrer anschließenden rhythmisierenden Rekombination („Figuration“) greifbar machten. Zeugnisse zu den spezifischen Umständen der Entstehung (z.B. Briefwechsel mit Sendeanstalten, Redakteuren, Lektoren) und Dokumente zur Rezeption (Rezensionen, Leserbriefe, Gerichtsbeschlüsse) verwiesen dagegen auf das Provokationspotential in Wührs Werk. Besonders eindrucksvoll waren vor allem die an der Wand angebrachten, großformatigen Farb-Reproduktionen von komplexen Planskizzen und Partituren, die Wühr zu einigen seiner Werke angefertigt hat, darunter eine Partitur der Klangcollage Soundseeing Metropolis München (1986) in 14 Tableaus (jwl. 58,5 x 41,5 cm!) und ein Strukturplan zur noch unveröffentlichten Tagebuch-Komposition Der wirre Zopf in 12 Tafeln (jwl. ca. 20 x 32 cm; Abb. 16/17/18).
Das exklusive Original-Material wurde nicht nur in Vitrinen, Regalen und an der Wand präsentiert, sondern zusätzlich mittels einer digitalen Applikation (kurz: App) für Touchscreen-Tablet-Computer, in welcher insgesamt rund 800 Scans und 400 Erläuterungstexte einsehbar waren. In dieser iPad-App, die von Ivo Wessel programmiert wurde, waren sämtliche Ausstellungs-Exponate in virtueller Form abgebildet, ergänzt durch Legenden und Kommentare (vgl. Abb. 20/21). Dies hatte den Vorteil, dass die digitalisierten Ausstellungsstücke zum einen mittels Zoom optisch vergrößert werden konnten, was insbesondere bei der Entzifferung von Original-Handschriften kostbar ist, und zum anderen, dass Exponate, die in der physischen Ausstellung naturgemäß nur einseitig (also vor- oder rückseitig) ausgelegt werden konnten, innerhalb der App in voller Länge einsehbar waren. Das virtuelle Display diente dabei jedoch nicht nur als elektronisches Abbild und als Navigator der Ausstellung, sondern bot darüber hinaus reichlich Zusatz-Material. Außerdem ermöglichte die App zahlreiche Verlinkungen einzelner Exponate untereinander (vgl. Abb. 17), was gerade in Anbetracht der hochgradig vernetzten Bezüge in Wührs Werk besonders anregend war. Auch bot sie die Möglichkeit, die Materialien nach unterschiedlichen Parametern zu sortieren und zu filtern. So konnte sich der Besucher jenseits der Grundsortierung nach Vitrinen sämtliche Objekte auch sortiert nach einzelnen Werken, Gattungen, Jahr oder Medientyp anzeigen lassen. Unter der Rubrik ‚Stichworte‘ bestand außerdem das Angebot, sich ausschließlich Exponate, die im Zusammenhang zu bestimmten Orten, Personen, Textsorten oder Themen (z.B. Philosophie, Sexualität, Poetik etc.) etc. standen, anzeigen zu lassen. Ferner wurden vom Kuratoren-Team verschiedene Selektionen zusammengestellt, in denen ausgewählte Exponate unter Oberbegriffen wie ‚Für Volljährige‘, ‚Für Gottlose‘ etc. angezeigt wurden.
Die Tablets dienten schließlich auch als komfortable, tragbare Abspielgeräte für das vielfältige Audio- und Filmmaterial. Über die Dauer der Ausstellung hinaus bietet die App den Vorzug einer erweiterbaren, digitalen Dokumentation zu Leben und Werk des Autors Paul Wühr.
Die Ausstellung in der von Oswald Ungers 1996 gebauten Villa mit dem Beinamen „Haus ohne Eigenschaften“ war bei ihrer Eröffnung rege besucht (vgl. Abb. 22). Neben einer Vielzahl von Mitgliedern der Proust-Gesellschaft, deren Vorsitzender der Ausstellungs-Gastgeber Reiner Speck ist, waren zahlreiche Verehrer des Werks von Paul Wühr aus ganz Deutschland angereist. Den Festvortrag mit dem sprechenden Titel „Von der Poesie republikanischer Rede“ hielt Herbert Wiesner (Gründer und ehemaliger Leiter des Literaturhauses Berlin). Zuvor hatte Reiner Speck mit einer feinsinnigen Rede, in welcher er Parallelen im Werk von Paul Wühr und Marcel Proust herausgestellt hatte, die Besucher begrüßt; der Co-Kurator Wolfgang Lukas (Universität Wuppertal) hatte differenziert in die Ausstellungskonzeption eingeführt und Sabine Kyora (Universität Oldenburg) in einem schwungvollen Vortrag den von ihr und Wolfgang Lukas herausgegebenen, frisch erschienenen Tagungsband „Paul Wühr. Strategien der Wissenspoesie“ (text + kritik 2014) vorgesellt. Den Höhepunkt der Eröffnung markierte jedoch zweifelsohne die Lesung Paul Wührs aus seinem Gedichtzyklus Sage (Abb. 25) – der letzten Lesung zu Lebzeiten des damals 87-jährigen Dichters, der zur Eröffnung der Ausstellung eigens aus seinem Domizil in Umbrien angereist war. Zusammen mit seiner Frau Inge Poppe (Abb. 24) besichtigte er im Anschluss an die Lesung (und nachdem er im Rollstuhl die Treppen in das Obergeschoß empor getragen wurde) tief berührt die Ausstellung zu seinem Werk (Abb. 23), das ihn überdauern wird. Das Publikum hatte er zu Beginn seiner Lesung mit den Worten begrüßt: „Ich danke Ihnen, dass Sie zu mir kommen, nachdem man mich in eine Ausstellung verwandelt hat.“
Andreja Andrisević
[1] Zitat von Paul Wühr aus einem Brief an Matthias Hoppe vom 17. Juli 1990, enthaltend die Antworten auf Interviewfragen bezüglich der Verleihung des Petrarca-Preises für die September-Ausgabe der Zeitschrift Ambiente im Jahr 1990 (Privatbesitz Reiner Speck). Im vollen Wortlaut, der auf dem Leporello zur Ausstellung wiedergegeben ist, lautet das Zitat: „Wenn ich schreibe, atme ich in der Poesie. Petrarca ist für mich beinahe die Poesie selbst. Nähe zu ihm ist also eine atemberaubende Ehre“.
*Einen ausführlicheren Bericht zur Konzeption der Ausstellung findet sich – verfasst von Andreja Andrisević, Wolfgang Lukas und Ivo Wessel – unter dem Titel „Zwischen Materialität und ,Second Space’. Zur Kölner Paul-Wühr-Ausstellung in der Bibliotheca Speck: Wenn ich schreibe, atme ich in der Poesie“ in: Editio Bd. 29, H. 1, 2015, S. 156–177.