Paul Wühr: Authentizität und Fiktion. Über das O-Ton-Hörspiel. (Wiener Vorlesungen, Teil 2)

Meine auf Gegenmünchen folgenden Originalton-Hörspiele sind eng mit diesem Poem verbunden. Ich versuchte 1970 – in Zusammenarbeit mit Christoph Buggert, damals freier Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks – das Buch als Hörspiel einzurichten. Das lag nahe, weil es sich bei Gegenmünchen um eine Komposition aus vielen dramatischen, epischen und lyrischen Figurationen handelt, also insgesamt um ein Gedicht. Ich dachte damals an einen Sternmarsch zum Nockherberg, dem Biersanktuarium Münchens, insbesondere ging ich von einem Beispiel im Buch aus, nämlich dem Demonstrationszug der Positivisten. Doch schon bald mußte ich einsehen, daß alle Dokumente des Jahres 1968, die ich in Gegenmünchen verarbeitet hatte, weitgehend ihren dokumentarischen Charakter einbüßten, wenn sie von ausgebildeten Sprechern hörbar gemacht würden. Diese Einsicht lähmte. Die Übersetzung von Teilen Gegenmünchens in ein Hörspiel und eine entsprechende Weiterarbeit im Stile des Buches wurden aufgegeben. Erfahrungen in der Arbeit mit Originalton-Hörspielen gab es damals kaum. Ich kannte kein Spiel dieser Art. Ich wußte nicht weiter. Da gab Christoph Buggert den entscheidenden Impuls: Ich sollte mir mit Tonbandaufnahmen das Ausgangsmaterial für ein Hörspiel selbst verschaffen.
Als ich im Sommer 1970 mit den Aufnahmen begann – Jürgen Geers, heute ein bekannter Hörspielautor, arbeitete von Anfang an mit -, rechnete ich mit großen Schwierigkeiten. Jedoch von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, gab man überall auf den Straßen, in den Lokalen und Wohnungen bereitwillig Antwort auf meine Fragen, wie man sich in unserem Staate fühle, wie man die Situation und die Lebensbedingungen beurteile – nachdem ich meinerseits erklärt hatte, was ich mit den auf Tonband aufgezeichneten Antworten, Aussagen und Meinungen zu tun beabsichtigte. Das allerdings konnte ich damals nur ungenau formulieren. Ich mußte selbst in einer neuen Arbeitsweise erst Erfahrungen sammeln. Zunächst erklärte ich jedem einzelnen Befragten vor der Aufnahme nur folgendes: es handle sich vorerst um das Basismaterial für ein Hörspiel; alle waren einverstanden damit, daß ich aus den besprochenen Bändern diejenigen Passagen, die mir für die Erschaffung eines Gesamtbewußtseins geeignet erschienen, auswählen, diese Passagen kombinieren und in andere – allerdings nicht beliebige oder verfälschende – Zusammenhänge bringen würde. Sie alle waren also einverstanden damit, daß ihre individuellen Aussagen Teile einer überindividuellen Aussage würden. Wie ein solches Gesamtbewußtsein entstehen könnte, zeigte sich mir im einzelnen erst während meiner Weiterarbeit. So jedenfalls drückte ich mich aus, als ich bei der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden von meiner Arbeit am Preislied erzählte. Im großen und ganzen bin ich auch heute noch mit diesen Ausführungen einverstanden, wenn mir auch der Ausdruck »Gesamtbewußtsein« etwas zu hoch gegriffen erscheint; vielleicht entspricht »Gruppenbewußtsein« besser. Ich komme noch öfter auf diese Erklärungen zurück und werde sie mit Erfahrungen und Einsichten ergänzen, die ich in den folgenden Jahren machte.
Nach den Aufnahmen mit Personen aus allen Altersgruppen und allen sozialen Schichten schrieb ich das gesammelte Material ab, das auf fünfundzwanzig Bändern von je einer halben Stunde Laufzeit vorlag. Da ich mich bei der weiteren Arbeit ausschließlich vom Material bestimmen lassen wollte und vorhatte, das Spiel aus Ansätzen zu entwickeln, die ich im Material vorfinden würde – da ich das geplante Gesamtbewußtsein mit allen wesentlichen Intentionen der befragten Personen zum Sprechen bringen wollte -, war diese Schreibarbeit nötig. Und nicht nur deshalb: Als ich nämlich zu lesen begann, bemerkte ich zum erstenmal Sätze, die in besonderem Maße, oft auch gegen den Willen des Sprechenden, kennzeichnend waren, die mir jedoch während der Gespräche sowie beim Abhören der Bänder nicht aufgefallen waren. Ich isolierte sie und hatte nun Bruchstücke von Aussagen, in denen sich mit verblüffender Eindeutigkeit die wirklichen Meinungen und Urteile der befragten Personen zu erkennen gaben; der Redefluß hatte verschleiert.
Bei dem soeben Ausgeführten handelt es sich wieder um einen Ausschnitt aus der schon erwähnten Rede in Bonn. Neuformulierungen würden nichts verbessern. Nur den letzten Satz möchte ich in Frage stellen oder besser: von Fragen umstellen. Von wirklichen Meinungen und Urteilen der befragten Personen zu sprechen, ist wahrscheinlich nicht berechtigt, da es sich vielleicht nur um wahrscheinlich wirkliche Meinungen handelt. Wahrscheinlich ist auch, daß diese von mir so genannten ›wirklichen Meinungen‹ oft nur leichtfertige oder unbewußte Aneignungen anderer Meinungen sind, also nicht immer persönliche Ansichten wiedergeben. Hier sind somit Unterschiede zu machen. Aber gleichviel: Der Redefluß hatte verschleiert. Ein Gesamtbewußtsein wurde bloßgelegt. Ähnliches würde sich übrigens bei der gleichen Prozedur gewiß in unser aller Aussagen dekuvrieren. Ich hatte jedenfalls späteren Hörern nicht in dem Sinn vorgearbeitet, daß sie sich über die am Spiel Beteiligten amüsieren sollten; solche Hörer würden damit ihr eigenes Bewußtsein als ein gefährlich naives demaskieren. Daß die befragten Personen ein differenziertes Verhältnis zu ihren eigenen Aussagen haben, müßte man als Hörer feststellen können. Vieles wird zwar so vorgebracht, als stünden sie ganz dahinter, aber bei vielen Aussagen macht der Tonfall die Unsicherheit deutlich. Oft werden Behauptungen sogar von einem verräterischen Kichern begleitet. Soviel kann hier angemerkt werden, in Wahrheit tut sich viel mehr; unser Gehör ist entweder beschränkt oder, was höher liegt: es fehlt ihm an einem Geist, der sich ganz einzuhören vermag.
Aber noch einmal zurück zum zweiten Arbeitsabschnitt: Damals wurde mir zusätzlich klar, daß ich das Material weitgehend zerlegen mußte, nicht nur – ich komme darauf später zurück -, um durch die Kombination der Bruchstücke bestimmte, allen gemeinsame Verhaltensweisen erkennbar zu machen, sondern auch, um alles Private ausscheiden zu können.
Beim dritten Arbeitsabschnitt wurden die herausge­lösten Teile kombiniert. Es entstanden Figurationen. Hier arbeitete ich ähnlich wie in Gegenmünchen. Die Arbeit an Gegenmünchen war die Voraussetzung für die Entstehung meiner Art von O-Ton-Hörspielen. Ich könnte noch weiter ausholen und behaupten, daß ich von Anfang an figurierte: also nie eigentlich erzählte, dramatisierte oder Gedichte schrieb. Das hier nur nebenbei. Die Figurationen in meinen O-Ton-Hörspielen sind immer kleine Einheiten, in denen sich die von mir erwähnten Intentionen eines Gruppenbewußtseins erzählerisch, szenisch oder lyrisch entwickeln. Alle Figurationen werden dann zu einer Gesamtfiguration verbunden, z. B. zum Absingen eines Preisliedes.
Ich inszenierte. In einem Spiel finden jetzt Szenen, Begegnungen, Auseinandersetzungen und fröhliche Einstimmigkeiten statt, die in Wirklichkeit nie stattgefunden hatten. Und das alles wurde laut in einem O-Ton-Hörspiel. Und das alles wurde in einem Hörspiel in Szene gesetzt, das aus dokumentarischem Material entstand. In dieser Figuration gerieten die individuellen Aussagen und Meinungen der Beteiligten immer wieder in einen neuen Zusammenhang. Blieb ihr Sinn zwar unangetastet, so bekamen die Aussagen doch einen anderen Stellenwert. Und das alles in einem Spiel, das aus einem quasi authentischen Material gewonnen wurde. Und hinzugefügt werden muß, daß sich die beteiligten Personen sicher nicht so geäußert hätten, wie sie sich jetzt im Spiel äußern, hätten sie in den Zusammenhängen gesprochen, in die sie durch meine Figuration geraten sind.
Alle Arbeitsvorgänge des Figurierens, wie ich sie hier beschrieb, brachten mir die Vorwürfe der Manipulation und der Zerstörung des Authentischen ein. Ein Ausschnitt aus den kritischen Anmerkungen zur Gattung des Originalton-Hörspiels von Wilhelm Genazino, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. August 1972 unter dem Titel Der Mensch verschwindet am Schneidetisch erschienen sind, steht für viele ähnliche Reaktionen: Das Verschwinden der Personen im Original-Ton-Hörspiel, die gleichwohl in Kurzauszügen reden dürfen, ist eine Folge der Herstellungstechnik, die sich dafür herausgebildet hat. Paul Wühr hatte für sein Stück zwölfeinhalb Stunden Redematerial gesammelt. Die Interviewten hatten bei den Aufnahmen die Vorstellung, hier könnten sie sprechen. Das Original-Ton-Hörspiel war mit seinem Anspruch vor sie hingetreten: »Ihr, die Ihr sonst nur das Schweigen habt, sollt nun das Sagen haben!« Und es geschah, was bei der Produktion geschehen mußte: aus dem großen Vorrat des Gesprochenen wurden einzelne Sätze verwendet, die in der Zusammensetzung und im Zusammenhang mit vielen anderen Sätzen anderer Menschen bestimmte Effekte, Verläufe, Strukturen ergeben, die den künstlerischen Haushalt des Original-Ton-Hörspiels zu bestreiten haben. Wer dafür eine Formel lesen will, kann sie kriegen: Wer Personen durch Reden auf Tonband zunächst zum Vorschein bringt, kann sie durch Bandschnitt wieder verschwinden lassen. Denn der Schnitt, insbesondere der virtuos gehandhabte Schnitt, ist das wich­tigste Regie-Werkzeug bei der Produktion von Original-Ton-Hörspielen. Wörtlich: Regisseur und Autor können ihren Lieferanten das Wort abschneiden. Wer seine Satzlieferanten so behandelt, behandelt sie wie Stehauf-Männchen, denen an jedem Punkt ihres Sprechens das Reden abgedreht werden kann. Es kommt am Ende ein monströses Reden heraus, das sich zwar mit Authentizität schmückt, in dem aber niemand mehr kenntlich ist … Wenn sich das Original-Ton-Hörspiel nicht um seine Progression bringen will, muß es wirklich Menschen nicht nur verwenden, sondern kenntlich machen. Es muß exemplarische Einzelne vor das Mikrophon bringen.
Zum Vorwurf der Manipulation zitiere ich einen kleinen Ausschnitt aus meinem Gespräch mit Klaus Ramm, das in dem Band Hörspielmacher, herausgegeben von Klaus Schöning im Athenäum Verlag, 1983 erschienen ist: Wie kann ein Autor auf solche Weise den Intentionen aus all den Äußerungen, Meinungen, Aussagen, Urteilen gerecht werden, mit denen er arbeitet, wenn er gerade nicht die ausführlichen Inhalte, die ausformulierten Äußerungen, die begründeten Urteile zitiert, sondern Intentionen festmacht an winzigen und winzigsten Partikeln des gesprochenen Materials? Wie kommt es, daß die Intentionen sich gerade nicht in ausagekräftigen syntaktischen Bögen zu erkennen geben, sondern in bis ins kleinste zersprengen Rederesten? Darauf antwortete ich in etwa wie folgt: Ich habe bei der Arbeit am Preislied das erste Mal erkannt, daß sich durch die Isolation von Satzbruchstücken oder das Abkappen der Sätze die Intentionen viel deutlicher herauskristallisierten. Der Redefluß eines solchen Textes verschleierte den Zusammenhang, auch für den Sprechenden selber. Durch das Herausholen einzelner, für mich ganz wesentlicher Partikel konnte ich die manipulierte, die vorfabrizierte Sprache, diese vorfabrizierte, manipulierte Meinung aufbrechen. Ich konnte damit den Text ›bis zur Kenntlichkeit treiben‹ – wie Ernst Bloch sagt.
Noch ein Wort zum Abkappen: die Satzreste, Satzbruchstücke verursachten innerhalb der Figurationen einen Schwung, einen Rhythmus, eine Sprachgeste, die mich schon von Anfang an erinnerten an die Strophen eines Gedichtes, weshalb ich sofort auch dazu überging, meine Figuration in Gedichtform niederzuschreiben. Hierauf komme ich noch einmal zurück.
Wie ich schon einmal erwähnte: Ich mußte auch zerlegen, um alles Private ausscheiden zu können. Und ich wollte den Hörern nicht in dem Sinn vorarbeiten, daß sie sich über die am Spiel Beteiligten amüsieren könnten. Wenn in meinen Spielen also so viele Stimmen laut werden, dann auch deshalb, um dies zu vermeiden. Wie Jörg Drews in seinem Nachwort zu So spricht unsereiner schreibt, läßt mein Verfahren … das fatale Vergnügen an der bestechend plastischen Einzelselbstdarstellung nicht aufkommen und die Kategorie des ohnehin nur beschränkt aussagekräftigen befragten Subjekts verschwinden. Das geht über den von mir angesprochenen Schutz der Privatperson hinaus und redet von einer Unzulänglichkeit, die ich hier noch einmal betone, wieder mit Worten von Jörg Drews: Ob die Verbreitung der Selbstzeugnisse von Unterprivilegierten und Außenseitern dieser Gesellschaft bewußtseinsverändernde politische Wirkung hatte, läßt sich schwer abschätzen. In Abgrenzung zu den Anfang der siebziger Jahre so begeistert aufgenommenen authentischen Protokollen spricht Jörg Drews in diesem Zusammenhang auch von der Exotik des Alltags … das Individuelle habe fatal pittoreske Qualitäten. Ich spreche in diesem Zusammenhang von der mühelosen Produktion: Ein Subjekt, ein Aufnahmegerät, ein arrangierender Autor, und fertig ist ein Hörspiel oder ein Buch.
Schon 1972 muß ich geahnt haben, daß man mir die Zerstörung der geglaubten Authentizität vorwerfen wird, schrieb ich doch in meiner Rede für die Preisverleihung: Mit dieser Herstellungspraxis wird zugleich einem weitverbreiteten Glauben an die Authentizität von Dokumenten widersprochen, der naiv für Wirklichkeit hält, was ihm als Dokument geboten wird. Dieser Glaube sieht nicht, daß es sich bei jedem Dokument nur um Ausschnitte handeln kann, und daß bei der Auswahl dieser Ausschnitte immer bewußt oder unbewußt manipuliert, Wirklichkeit also mehr oder weniger verfälscht wurde. Am fatalsten dürfte sich dieser Glaube im politischen Bereich auswirken. – Und wenn das so ist, kann ich nicht einsehen, daß nun auch noch Hörspielautoren diesen Glauben an die Authentizität von Dokumenten fördern, indem sie ihr Material so wenig wie möglich verändern. Gerade das Original-Ton-Hörspiel gibt die Möglichkeit, durch offenes Eingeständnis der Manipulation diese aufzuheben und damit auch den Glauben an die Authentizität von Dokumenten abzubauen.
Ich stellte das Preislied sehr oft in der Öffentlichkeit vor, und immer wieder gab es erregte Diskussionen. Der Glaube an die Authentizität nahm manchmal, besonders bei Jugendlichen, geradezu fanatische Formen an. Das dürfte sich inzwischen wenig geändert haben: Man will sich an etwas halten können, an etwas Wirkliches. Ich dagegen faßte schon damals in dem Gespräch mit Klaus Ramm, authentisch übertreibend, zusammen: Für mich entsteht aus all diesen Partikeln so etwas wie eine zweite Authentizität, eine Authentizität allerdings, die mir ehrlicher und kritischer erscheint als die erste. Die erste Authentizität ist für mich keine, die ist überhaupt nicht herstellbar, die gibt’s nicht. Eine zurückhaltendere und genauere Antwort gibt Jörg Drews in seinem Nachwort zu dem Sammelband meiner Originalton-Hörspiele: Wühr ›manipulierte‹ – in den Hörspielen und nun auch in dem Originaltext-Buch – sein Material bewußt, um es über die Pseudo-Konkretheit des Einzelfalles hinaus zum Sprechen zu bringen; er riß Äußerungen aus ihrem vereinzelnden Zusammenhang, zerstörte völlig die erste Authentizität des Materials und machte sich daran, ihm dafür die zweite, die höhere Authentizität zu geben, es ›zur Kenntlichkeit zu verändern‹ (Ernst Bloch). Der Fall wurde im Chor aufgehoben, der Chor aber sprach nicht in individuellen, sondern in kollektiven Mustern. – Ich stelle also eine zweite Authentizität her, die offen manipuliert ist, sagte ich zu Klaus Ramm. Ich behaupte gar nicht, so ist die Wirklichkeit; so – kann ich nur behaupten – ist die Wirklichkeit, wenn sie durch meinen Kopf, der hier figuriert, hindurchgeht. Also, meine Person gehört offensichtlich dazu. Würde ich sie wegnehmen, was ja überall geschieht, und würde ich dann behaupten, das ist Wirklichkeit: das ist dann für mich Manipulation. Er faßte in diesem Gespräch dann zusammen: Mit dieser Konzeption stellt Wühr sich bewußt in einen Widerspruch zu einer Reihe von – interessanten und wichtigen – O-Ton-Hörspielmachern, die durch den zitierten Originalton einzelne Menschen, einzelne Schicksale direkt zur Sprache bringen wollen und die dafür in Kauf nehmen, daß ein von Mikrophon, Raum, Personen, Hörspielmacher, Redakteur, Programm durchgängig bestimmter Ausschnitt der Wirklichkeit als Wirklichkeit selbst, daß das Zitieren von zubereiteter Wirklichkeit als Originalton der unverstellten Wirklichkeit verstanden wird.
Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Vor einigen Monaten erst habe ich in einer Untersuchung von Marianne Wünsch und Michael Titzmann (in einem zu meinem bisherigen Werk erschienenen Materialienband im Friedl Brehm Verlag) die treffende Definition für das Verhältnis von Authentizität und Fiktion in meinen O-Ton-Arbeiten gefunden. Ich zitiere: Laut Vorbemerkung des Autors gilt, daß die Teiltexte der vier Abteilungen des Bandes ( So spricht unsereiner ) auf Tonbandaufnahmen von Sprechakten realer Personen beruhen. – Aber die Textteile reproduzieren nicht diese Bandaufnahmen, sondern jeder dieser Textteile präsentiert sich als Kombination von Elementen, die der Autor Wühr aus den Reden verschiedener realer Sprecher selegiert hat: Jede Leerzeile zeigt an, daß eine andere Person spricht. Jede Zeile jedes Teiltextes ist also authentische Rede eines realen Sprechers; jeder Teiltext ist hingegen eine fiktive Rede, die aus den Akten der Selektion und Kombination einer Autoreninstanz entsteht. Aus den realen Reden (von Frauen und Männern) werden auf diese Weise fiktive Texte.
Jetzt spreche ich wieder aufs Ganze. Das ist noch einmal ein Ausschnitt aus meiner Rede: Dokumente, wurde gesagt, sind nur Ausschnitte aus der komplexen Wirklichkeit. Die vollkommene Darstellung der Wirklichkeit müßte den ganzen Zusammenhang geben. Das ist aber nicht nur unmöglich, sondern schon wirklich, nämlich vorhanden, allerdings nicht durchschaubar. Aber genau darum geht es: um Erkenntnis. – Bleiben also Ausschnitte in Form von Dokumenten. Bleibt das Eingeständnis, daß es sich um Ausschnitte handelt. Bleiben die Auflösung dieser Ausschnitte und die Unterbringung der Bruchstücke in einem künstlichen Zusammenhang, in einem Gegenspiel, in einer Gegenwirklichkeit: diese bleibt hart an einer korrumpierten Wirklichkeit und spielt ihre in kritisches Material veränderten Dokumente gegen sie aus.
Nach dem Preislied entstanden Hörspiele über die andere Wirklichkeit unterprivilegierter sozialer Gruppen: der psychisch Kranken im Verirrhaus, der Drogensüchtigen in Trip Null und der Frauen in dem, aus Gründen der von den Anstalten öffentlichen Rechts gesetzten Tabugrenze, nicht gesendeten Hörspiel So eine Freiheit – das jedoch im Dramatischen Zentrum Wien zur szenischen Aufführung kam.
Schon in dem 1967 gesendeten Hörspiel Wenn Florich mit Schachter spricht hatte ich versucht, Dialoge zu verdoppeln, sie gegenläufig werden zu lassen. Zum Inhalt aus der damaligen Programmvorschau: Viele Jahre übertrafen Florich und Schachter, Schauspieler am selben Theater, zwar meist sich selbst, aber keiner jemals den anderen. Nun muß der Direktor einen von ihnen entlassen. Da er offenbar ein gütiger Herr ist, überläßt er die Entscheidung den beiden.Und weil er weiß, daß er es mit Freunden zu tun hat, und also damit rechnet, daß diese zwei sprechen können, weil sie vernünftig sind, wenn sie vernünftig sein wollen, wünscht er, daß sie in einem Gespräch den Geeigneten suchen, jenen – die Verhältnisse sind so -, der die Kraft hat, sein Leben zu ändern und neu anzufangen. Da sie nicht würfeln wollen, findet das Gespräch statt: zwischen den beiden, zwischen ihren Ehefrauen Ros und Peg, zwischen den Ehepartnern; doch es kommt nicht vom Fleck. Ist es möglich, objektiv Gründe abzuwägen, keiner Frage auszuweichen, sachlich miteinander zu reden, ohne Hinterhalt, wenn es um die Gesprächspartner geht?
Mit den damaligen technischen Mitteln war es jedoch noch nicht möglich, Personen sprechen und ihre Gedanken vor- oder nachlappen zu lassen. Einen zweiten Versuch machte ich in dem 1976 vom Bayerischen Rundfunk gesendeten Originalton-Hörspiel Viel Glück. Zunächst wählte ich wieder aus dem Gesamtmaterial aus und montierte so, daß größere Sinnzusammenhänge entstanden. Ich parzellierte also nicht wie in allen anderen, früher entstandenen O-Ton-Hörspielen. Ich fügte als neues Element Kommentare ein, die einige der Diskussionsteilnehmer nach nochmaligem Hören der Gespräche vom Tonband spontan dazu abgegeben hatten. Diese Stellungnahmen überlagern die ursprüngliche Montage, schrieb Brigitte Weidinger in der Funk-Korrespondenz vom 15. 9. 1976, und liefern eine zusätzliche Dimension von Echtheit und Lebendigkeit, die aber eben nicht als kommentierende Einmischung von außen wirkt. Das ist gut gelobt. Aber ich muß zugeben, daß bei einer so großen Teilnehmerzahl die neue Möglichkeit, O-Ton-Hörspiele zu machen, sich nicht durchsetzen kann. Ein Kammerspiel dürfte geeigneter sein.
Im Sommer 1984 erzählte mir Klaus Schöning vom Westdeutschen Rundfunk von seinem Plan, Klangbilder einzelner Metropolen produzieren zu lassen und bot mir an, in dieser Reihe München zu übernehmen. Es entstand Soundseeing Metropolis München, urgesendet am 21. Oktober 1986. Die Herstellung einer Collage aus Geräuschen erwies sich als etwas ganz Neues, nicht nur, weil sich Aufnahme- und Reproduktionstechnik inzwischen weiterentwickelt hatten, sondern auch, weil es einer Neuorientierung über die Möglichkeiten des Hörens bedurfte. Nach der theoretischen Annäherung sammelte ich mit meinem Mitarbeiter Michael Langer, der vor allem auch für die Aufnahmequalität verantwortlich war, praktische Erfahrungen auf zahlreichen Rundgängen und Rundfahrten durch die Stadt. Es dauerte einige Wochen, bis aus visuellen Stadtwanderungen wirklich und ausschließlich auditive geworden waren. Die Komposition einer Stadtführung war von Anfang an geplant. Auf diese Weise wollte ich der Gefahr einer mehr oder weniger beliebigen Sammlung von Geräuschen, die typisch sind für München, entgehen. Wir mußten zunächst lernen, daß man bei geschlossenen Augen Bewegungen im Raum nur sehr vage folgen kann. Das Ohr lokalisiert zwar mit hoher Geschwindigkeit eine Schallquelle in ihrer Richtung, ermißt aber sehr ungenau ihre Entfernung. Bewegt sich eine Schallquelle auf den Hörer zu oder in unterschiedlichen Entfernungen an ihm vorbei, verändern sich also Richtung und Entfernung gleichzeitig, dann wird die Bewegungsrichtung unbestimmter und zur Irritation. Durch Stereoaufnahmen wurde diese Irritation perfekt. Wir als Aufnehmende wußten zwar noch, an welchem Standort wir die Geräusche empfangen hatten, dem Hörer jedoch fehlt diese gespeicherte Information völlig. Aufgrund dieser physiologischen und technischen Gegebenheiten verbot sich somit eine kartographische Stadtführung. Diese mußte zu einer »Sightseeing tour« fürs Ohr, nämlich zu einer »Soundseeing tour« werden. Ich verzichtete nicht nur auf die authentische Führung, sondern ich verstärkte und verdichtete diese Irritation, indem ich keine Rücksicht mehr nahm auf lokale Zusammenhänge. Zunächst in einer Partitur und dann bei der Mischung im Studio stellte ich – mit den Ohren denkend – keine kartographischen, sondern semantische Zusammenhänge her, die den Hörer reizen sollten: selbst Zusammenhänge herzustellen, also mit den Ohren zu schauen, was nur bedeuten kann, daß er mehr sieht, daß er die Stadt hinterschaut. So ist der Begriff »Soundseeing« zu verstehen. Aus der Not eine Tugend machend, entstand durch die Irritation nicht der geläufige Irrgarten, sondern eine Irreführung, bei der Münchens Lokalitäten als Sound umbesetzt und schließlich durch eine Stadtsoundkomposition ersetzt wurden, die nicht durch Beliebigkeit der Geräusche, sondern als eine bestimmte Gestalt zu hören, d. h. zu denken gibt. Hier schauen die Ohren. Bei dieser Führung, die sich große Sprünge, auch durch die Geschichte erlaubt, gibt es Gänge und Märsche, vor allem aber Auf- und Abstiege, die wegen des unterschiedlichen Aufsetzens der Füße auf den Stufen mit dem Ohr deutlicher wahrzunehmen sind. Diese weitere Möglichkeit zum Vermeiden beliebiger Richtungslosigkeit betont auch die vertikale Achse der Komposition. Zuletzt sei noch erwähnt, daß mich natürlich die verbalen Elemente in dem vorgefundenen Geräuschmaterial interessierten. Worte, Ausrufe, Sätze verführten zu Geräuschen und umgekehrt.

 

Paul Wühr: Das Lachen eines Falschen. Wiener Vorlesungen zur
Literatur. Mit Bildern von Jürgen Wolf. München (K. Kieser Verlag) 2002
(= écart 1), S. 37-49.

Wir danken dem Verlag für die Genehmigung der Wiedergabe.