Paul Wühr: Das Falsche und die Lüge. (Wiener Vorlesungen, Teil 1)

Wie er, der Rhetor – nach Plato: der Fälscher -, es denn gerne hätte, fragt sich dieser in der Öffentlichkeit und erwidert: falsch, entsprechend dem Verdikt, und von Anfang an in veröffentlichter Ambivalenz; schwankend also oder schaukelnd, dann und wann auch rotierend: weil es sich um die Wörter dreht. Vor allem dreht es sich hier um das Wort: falsch, wenn ein Falscher spricht, und ein solcher sagt zuerst einmal, daß er ein Falscher nicht bleiben darf, und zwar in jedem Fall, weil er sonst ein richtiger Falscher zu werden droht: und damit wäre er etwas Richtiges geworden, was dem Falschen nur schlecht stehen kann. Stehenbleiben kann ein Falscher nicht, wie gesagt, auch nicht im Falschen: er muß in Bewegung bleiben, er kann sich nirgendwo niederlassen in seiner Rede, die, wenn sie die schwankende, schaukelnde oder gar rotierende Rede ist, von sich sagen kann, sie sei Poesie, oder bescheidener: so wie sie in etwa sei auch die Poesie, nämlich etwas Falsches.

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Wenn hier also vom Falschen die Rede ist, so zugleich von Poesie. Das Verwirrspiel beginnt. Wir reden von der Lüge. Sie hat mir geschadet. Ich habe beschädigt mit ihr, auch mein Schaden – also in jedem Fall in den engeren Sinn von ihr hinein, wo ich hier aber nicht aufrichtig werden will, sondern denke: an Wahrheit und auch in weiterem Sinn an Lüge und auch sofort an Aufhebung dieser Gegensätze, wenn es keine Lüge ist, daß viele an der Lüge starben, an der Wahrheit aber viel mehr. Da kommt schon Irenik ins Spiel. Aber noch zu früh.

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Wahrscheinlich wird es sich in dieser Rede um Tauschverfahren handeln: Lüge als Wahrheit und Wahrheit als Lüge – nur so und noch ungenau, nicht differenziert genug, also leicht zu verstehen, aber schwer zu begreifen. Mehr Rhetorik als Wahrheit. Aber im Ernst: Der Verdacht, eine solche Aufhebung von Gegensätzen sei nur vorgetäuscht, macht keinen Kummer in dieser Rede. Vor eindeutigen, endgülti­gen Resultaten wird dauernd gewarnt. Nichts darf sich niederlassen in dieser Rede, sagte ich schon: schon gar nicht sie sich selber. Zur Ruhe gekommen, verkommt sie in jedem Wort. Auch im Wort Wahrheit verkommt Wahrheit, wenn sie sich in ihrer Identität totstellt, bis sie es ist. Da kommt schon die Identität ins Spiel. Aber noch zu früh.

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Aber genannt darf so früh werden: das Falsche, das auch – unter anderem – Poesie ist, weshalb hier auch immer von Poesie die Rede sein wird, weil hier immer von einem, der auszog, das Falsche zu lernen, über Falsches geredet wird, und wenn, dann auch vom Richtigen, und wenn es Wahrheit heißt: von der Lüge – wie wir schon sagten: im weiteren Sinn – und vom Echten als wieder einem Gegensatz zum Falschen und von dem Großen und Ganzen, dem Totum, und von den Identitäten in ihm – davon war noch nicht die Rede: aber vom Frieden.

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In diesen falschen Welten – und wir leben in vielen, gleichzeitig und nacheinander – läßt sich ein Falscher auf keine Richtigkeit ein, auch nicht auf die Behauptung: diese Welt sei richtig falsch. Wenn er also Wahrheit und Lüge oder Authentizität oder Inauthentizität ablehnt, dann handelt es sich nur um behauptete Richtigkeiten.

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Ein Falscher weiß, wie ungern auf Überblick verzichtet wird. Er weiß auch, daß nur der Überblick über das Ganze authentische Erkenntnis der Wirklichkeit, der Wahrheit erlaubt. Zu allen Zeiten waren nur wenige bereit, das zuzugeben. Ihr Einspruch wurde immer verworfen. Ihre Worte blieben machtlos vor Wörtern, die Wirklichkeiten stifteten, vor Sätzen, die sich selber zu Wirklichkeiten ernannten, nach denen gelebt werden konnte, und zwar auf eine Weise, die jedem wie die einzige richtige Weise in einer einzigen richtigen Wirklichkeit vorkommt im Laufe der Zeit, in der man sich jeweils daran gewöhnt hatte, alles mit diesen Sätzen zu sehen und mit ihnen zu glauben, das sei einfach alles, was sie uns sagten; sie würden das Ganze aussagen; sie seien die Gesetze des Ganzen.

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Was zu Realgewohnheiten wird zu allen Zeiten – auch heute -, darüber wird in Realwörtern geredet – oder, und dann ist es in jeder Neuzeit geschafft, eben erschaffen, worin man leben will: die neue Realität, die, mit neuen Gesetzen ausgestattet, wie eine selbstverständliche, also wirkliche wirkt. Von jeder Epoche kann angenommen werden, daß sie eine ähnliche Schöpfungsgeschichte hat – und von Anfang an den Lügner, der diese erfundenen Wahrheiten nicht mitlebt, der sie in Frage stellt.

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Das hört sich so an, als habe sich dieser Lügner selbst berufen. Das mag sein. Neue Richtigkeiten, neue Realitätsstiftungen aus den Wörtern heraus erklären aber immer vergangene Wortstiftungen, vergangene richtige Wirklichkeiten, richtige Wahrheiten zur Lüge. So wird das Rückständige verworfen. So erklärt sich unter anderem die auffallende Rückständigkeit der Lügner, wenn man auch sagen muß, wie schon gesagt, daß sie nicht nur zur Lüge bestimmt werden, sondern daß sie sich auch selbst bestimmten für sie. Das gilt für das Falsche. Das kann man auch für Poesie gelten lassen. Diese Selbstbestimmung jedenfalls hat es in jeder Gegenwart als Gegenwirklichkeit mit der Zukunft einer sich selbst verwirklichenden Richtigkeit zu tun.

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Jede neue behauptete Wirklichkeit tritt mit Wahr­heitsanspruch auf. Poesie muß diesen untergraben. Poesie muß Lügen in diesen Wahrheitsanspruch mischen wie Gift. Das ist ihre Aufgabe. Sie muß zur Giftmischerin werden, damit am Genuß dieser ver­gifteten Wahrheit gestorben werden kann, was aber den Spruch herausbringt: Wer nicht an dieser von Lüge vergifteten Wahrheit stirbt, wird nicht auferstehen im falschen Leben.

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Ich glaube nicht wie Christina von Braun, daß die Erfindung des Alphabets in unserer Welt eine grundsätzliche Veränderung brachte, freilich eine gewaltige Beschleunigung der Selbstbestätigung der neuen Realität; die Gesetze konnten differenzierter werden, die neue Realität konnte sich in sich schneller verständigen, was bei der explosionsartigen Zunahme der kognitiven Region im Menschenschädel auch notwendig wurde, die zur heutigen, über den ganzen Erdball ausgreifenden Weltkultur der Datenträger wird, wie – frei zitiert – Peter Brügge in seinem Artikel Unsere Sorglosigkeit ist biologisches Erbe (Der Spiegel, Nr. 53/1987) schreibt. Daß es bei allen diesen Evolutionen um Selbsterhaltung geht, kann die Poesie wenig kümmern; sie zertrümmert auf ihre Weise die neuen Spieltheorien und baut zu gleicher Zeit als Zeitgenossin nach anderen Regeln, im engeren Sinn: nach anderen Sprachregeln, ihr Spiel.

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Poesie verleugnet ihr Leben, wenn es sein muß. Das auch noch. Sie stellt sich tot wie die Frau im 19. Jahrhundert, der im Patriarchat eine Rolle zugeteilt wurde, die die Auslöschung ihrer Existenz vorsah. Christina von Braun schreibt: Die große Frauenkrankheit simuliert Frau-Sein; sie stellt sich tot, um zu überleben. Sie ist die große Lügnerin. Der weibliche Körper stelle die Krankheit, den Tod dar, die von ihr erwartet werden, um zu beweisen, daß dieser Körper auch im Nichts noch existiert. Es ist von der Hysterie die Rede. So muß in richtigen Welten gelogen werden, um überleben zu können. Lebenslügen sind auch und vor allem: Verweigerungen von Realsätzen, die in Gesetzen zu Steinen wurden. Poesie wirft niemals den ersten. Sie ist selber Lebenslüge, wenn über sie verfügt wurde. Als selbstberufene Lüge, die provoziert, wird sie auf Reinheit achten müssen, sonst wird sie konsumierbar. Nicht einen Augenblick darf sie in dem Gedanken einschlafen: sie würde dem Zeitgeist nie dienen. Der weiß sie immer wieder und neu zu verwenden für seine behauptete Wahrheit.

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Behauptete Richtigkeiten, die sich zur ganzen Wahrheit erklären, so viel ist klar, unterwerfen, was sie nicht authentifiziert. Wenn bisher die Rede von Lügnern und Lüge war, wurde aus ihrer Bestimmung zu dieser so etwas wie ein Sieg. Das Falsche hatte neue Vertreter. Vergessen wurde, daß Richtigkeiten Unrichtiges richtig auslöschen müssen. Und gar keine Rede war davon, daß diese wortgestifteten Wirklichkeiten, diese richtigen Realwelten mit ihrem Alleinvertretungsanspruch und Wahrheitsbesitz, mit ihrer Unfehlbarkeitsthese das Übel in dieser Welt so darstellen, wie es nicht schrecklicher dargestellt werden kann. Das Anschauungsmaterial war zu jeder Zeit reichlich vorhanden und ist es auch heute. Das Übel steckt auf seine Weise im Wahren, im Licht, nicht in einem Logos, der seine Wortwurzel von »leg«, von Lüge ableitet, vom Verborgenen und vom Falschen. Davon ist hier die Rede, die aus derselben Wortwurzel kommt.

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Also Abkehr von allem Richtigen: das ist es. Und deshalb klagt der Redner weder wie Rousseau: … die Ausübung der Wissenschaft und der Künste sei ein in besonderem Maße korrumpierter Zug der Zivilisation (und dabei liege die Betonung auf den Künsten, nach Lionel Trilling), noch über den Verlust von Autonomie und Identität, die nach Rousseau als Paradigmen des Zeitgeistes von der Gesellschaft des Erfolges in der Gesellschaft wegen übernommen würden.

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Das wurde richtig beklagt und lange und immer länger aufrichtig: also vielleicht war das recht so für Richtige. Falschen steht die Zerrissenheit gut, und es wird sich von ihnen wohlgefühlt in ihr. In aller Zerrissenheit wird nicht verzweifelt. Man bewundert die Teile dieser Streuung und verwünscht noch einmal das Ganze. Nicht nur! Gelogen muß werden, damit sich die Teile noch einmal in Lügen aufspalten in eigener Öffentlichkeit, die Lügengeschichten bereithält und Rollen darin, die ein jeder von uns mit sich selbst in sich selbst besetzt, falsch selbstverständlich und allen Ernstes. Und so erhalten wir uns in der Vielfalt für Unterhaltungen miteinander, die nie mehr reißen. Ein ganzes Durcheinander zerstreut: kommt keiner mehr aufrichtig durch, bleibt keiner aufrecht stehen, weil wir mit Vermehrung beschäftigt sind, die freilich eine aufrechte auch nachzulügen versteht. – Das hat mir die Wut eingesagt. Aber ich lasse es stehen, wie es hier auswendig wurde und von jedermann bespuckt werden kann.

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Wie wenig Rousseau vom Falschen verstand, zeigt sein Glaube: die Welt wäre erst zu seiner Zeit so falsch geworden, wie sie ihm vorkommt, und es hätte früher einmal eine richtigere gegeben: seinen Wilden. Ein Falscher weiß, daß selbst dieser Wilde in einer richtigen Welt lebte, die falsche Wilde nicht lange dulden konnte, weil die richtigere Welt diesen Wilden in Frage gestellt haben würde. In Wahrheit beklagt Rousseau als ein Richtiger hier den Zerfall von Richtigkeiten. Er sehnte sich zurück nach Richtigkeiten, die es zu seiner Zeit nicht mehr gab. Und damit sind wir schon bald in unserer eigenen Zeit. Zu seiner eingestandenen Freude gibt es für den Redner kein Zurück zur Rousseauschen Identität und Autonomie. Das ist gut so. Wir müssen von einem Bewußtsein ausgehen – wenn wir von uns sprechen -, dem Richtiges unzugänglich war und ist – und uns von behaupteten Richtigkeiten als von gewaltsamen Manipulationen, eben als von richtigen Lügen: abstoßen lassen, wortwörtlich: die Ankunft wird Abprall.

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Es kann im Ernst niemand behaupten, er habe sie ganz: die Wahrheit – wie schon auseinandergelegt; als Teil ist sie noch keine Lüge. Zur Lüge wird dieser Teil durch den Anspruch auf Richtigkeit. Es ist also eine Lüge zu behaupten, man spräche die Wahrheit. – Austausch: Es wird an den Gegensätzen gerüttelt. Aber der Redner spricht sie aus. Er denkt mit ihnen. Er ist ein Falscher. Als solcher erkennt er die Gegensätze nicht richtig an, noch löst er sie endgültig auf.

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Nichts wird vom Falschen ganz verworfen, schon gar nicht, was in Bewegung hält. Allein das Richtige würde nur noch Stille verschaffen, nähme es uns in sich auf, aber so, daß wir es auch begriffen. Als solche nämlich, die nichts vom Richtigen begreifen, leben wir ja herum in ihm, aber wie: in Bewegung, im Hin und Her, also wie gesagt: in Gegensätzen. Wir würden diese doch aufheben können in uns, wenn wir im Richtigen alles begriffen, was richtig ist. Das ist aber doch nicht der Fall. Es ist keiner angenommen vom Richtigen. Wir haben das Ganze nicht. Das Ganze hat uns, aber wir kennen uns in ihm nicht aus, geschweige wir hätten den Überblick, wie schon gesagt. Ich sagte das alles nur, um das Richtige einmal nicht zu verwerfen. Es wurde ja auch von niemandem behauptet. Hier behauptet es sich einmal selbst, aber davon haben wir wenig: Wir wissen wieder nur, daß es das Richtige gibt.

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Wenn Wahrheit als Ganzes hier bei uns nicht vorkommt, würde einer darüber nur traurig sein können, hätten sie oder er Lust am Ende, und zwar von Anfang an: also kein Interesse am Leben. Nicht Bewegung, Ruhe in Frieden wäre als Grab ihm oder ihr ganze Wahrheit. Behauptete ganze Wahrheit wird als Richtigkeit in der schrecklichen Regel zum Massengrab. Die Behauptung also: diese unsere Welt sei insgesamt falsch, ist als behauptete Richtigkeit eine Lüge. Ich pralle hier vom Falschen zurück. Schaukel. Oscillum. Der Rhetor als Oscillologe.

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So einfach ist das Leben im Falschen gar nicht, wie man bei dem Wort denken möchte. Auch das dürfte schuld sein, daß nur wenige ausziehen, um das Falsche zu lernen. Nicht, weil es sich in nur ihren behaupteten Richtigkeiten bei affirmativem Verhalten gut leben läßt, sondern auch, weil dort nicht gedacht werden muß, was im Falschen sofort wieder richtig werden ließe: der Aufenthalt dort also richtig kurz genannt werden dürfte. Das soll aber nicht heißen, daß Falsche oder solche, die solche sein wollen, nicht von selber zur Richtigkeit kämen, sich dort also nicht aufhalten würden, und zwar freiwillig, also weil sie es wollen. Wer hat denn behauptet, daß Falsche nichts Richtiges sagen, nur Falsches. Es war nur vom Behaupten der Richtigkeit die Rede. Vom Anspruch, der in der Behauptung erhoben wird: einzig zu sein. Aber selbst das passiert einem Falschen. Ist er vollkommen? In der Regel heißt es: Ein Falscher hält sich in der Wahrheit nur so lange auf, wie diese falsch bleibt, unvollkommen, schwach, ohne Macht. Entartet sie aber zur Richtigkeit, weil diese behauptet wird, wird sie also zur Lüge – so stößt ein Falscher sich ab zur falschen Lüge, einer offenen, eingestandenen, unvollkommenen, schwachen also: ohne Macht – und hält sich in ihr so lange auf, wie sie falsch bleibt. Entartet sie aber zur Richtigkeit, weil diese behauptet wird, wird sie also zur richtigen Lüge – so stößt ein Falscher sich ab zur falschen Wahrheit. Ein Falscher schaukelt nur so lange zwischen Falschem hin und her, so lange er nicht behauptet, daß diese Schaukelei das Richtige sei.

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Die unvollkommene, also nicht richtige Wahrheit stellt entweder ihren Mangel offen zur Schau – als falsche Wahrheit ist sie dann keine Lüge -, oder sie lügt ihren Mangel zu, wird ganz, ist als ganze richtig: eine richtige Lüge. Der falschen Wahrheit wurde damit Gewalt angetan. Von hier aus – der Blick zurück und heute im Kreis: aufrichtige Menschen, Schreckgespenster: mit Gewalt selbsterrichtet, hinrichtend mit Gewalt. Die echte, die richtige, die totale Wahrheit gibt es hier nicht, wo es uns gibt; und uns morgen nicht mehr, wird sie heute behauptet.

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Und gestern? Eine totalitäre Wahrheit ruft aus der Geschichte. In der Nähe Rousseaus bemerkt man Robbespierre und hat die Möglichkeit, einen Autonomen zu betrachten: sich selbst treu bis zur Selbstaufgabe, identisch mit sich von Selbstverarmung bis zur Selbstvernichtung, wirklich bis zur Traumlosigkeit, richtig bis zur Inhaltslosigkeit, geschlossen für alle Gesellschaftslügen, ihre Verführungen, schrankenlos selbständig, Selbstdarsteller ausschließlich, durchaus innen-geleitet (nach David Riesman): also authentisch vom Scheitel bis zur Sohle. Unverwechselbar wahr. Ruf aus dem Lügenmärchen, hoffentlich nur: Wer ruft den weißen Mann? Und wenn er aber kommt?

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Dann wird nicht etwa davongelaufen wie im Spiel, denn in Wirklichkeit hat sie den größten Zulauf: diese behauptete Authentizität, heutzutage besonders; man bestaunt sie, man schenkt ihr vollen Glauben, es soll schon zu Kniefällen, zu Selbstopfern gekommen sein. In dieser unserer falschen Welt, in der es an Gründen und Böden fehlt, worüber man die Aufrichtigkeit im Gesellschaftstanz aufführen könnte, bleibt anscheinend nur noch der Hunger nach einer Wahrheit, die immer auch verlogen sein darf: wenn sie als solche nur echt ist, zuverlässig, tastwürdig, glaubwürdig, am liebsten beglaubigt, bezeugt und verbürgt: eben authentisch.

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Ohne neue Rousseaus wird es also nicht gehen. In jeder Zeit wurde und wird zurückgerufen ins Echte. Klarstellungen der Situation, nämlich einer weit entfernten vom Ideal der Aufrichtigkeit, wie sie zuletzt Lionel Trilling in seinem Essay Sincerity and Authenticity unternahm, helfen da wenig. Das Echte steht eher höher im Kurs. Man ist bescheiden geworden jetzt, nach Trilling, und läßt in der Moderne die Aufrichtigkeit und das echte Selbstgefühl im Dasein verkommen zur Authentizität – es soll so gewesen sein und dann so geworden – und hat nun – soll haben – die volle Gewalt (authentéo) über seine Handlungsweise, hat diese im Griff, wie es: das Leben nämlich und besonders das Selbst, mit dem man sogar wie ein Gewalttäter (Authéntes) umgeht, um schließlich sein eigener Macher und Meister zu sein – es soll so gekommen sein. Und was soll er ausdrücken, dieser Rest einer einmal so großen Bedeutung: Richtiges, hingerichtet ins richtige Leben, aufgerichtet im richtigen Ich, eingerichtet in seine Autonomie, die sich ausrichtet auf Identität oder umgekehrt oder weil.

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Unüberhörbar dürfte gewesen sein, wie unglaubwürdig, ja gleichgültig dem Redner hier Rückschritt oder Fortschritt oder das eine im andern ist; deshalb, erklärt er als Falscher: weil ihn nur Anfänge eines Lebens interessieren, das mit dem Falschen etwas anzufangen weiß. Soweit ist es noch nicht, wie die Nachrichten melden.

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In den vergangenen Jahrzehnten verlor das Wort ›Kunst‹ seinen Glanz. Es wurde und wird nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert oder endgültig gestrichen; der Schein in dem Wort macht es jenen verdächtig, die glauben, ihr Sein in ihrer Welt immer mehr zu verlieren, weshalb sie im Glauben stark werden wollen: an das Echte; sie kommen zur täglichen Kommunion, nehmen einen Mund voll und kauen echt Wirkliches ins Verdauliche. Scheinbar Wirkliches gilt als unverdaulich und wird ausgespuckt. Teilnahme an Darstellungen wird dem Zuschauen bei Darstellungen vorgezogen, wie es Rousseau in seinem Brief an d’Alembert über das Schauspiel gefordert hat. In diesem falschen Leben wird also der Anspruch auf Authentizität, auf Autonomie des Selbst und seine Identität angemeldet. Die schlimme Nähe des Falschen zur Lüge macht wachsam. Man bleibt an der Lebenslüge hängen, aber Verdopplungen scheut man. Wahrheit im Schein verschlimmere, wähnt man. Verabreicht wird behauptete Authentizität in aller Verlogenheit also. Die schlimme Nähe des Wahren zur Richtigkeit wird nicht beobachtet. Das Echte als Gift trübt die entsprechende Gabe.

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Es muß noch gesprochen werden von kalten Träumen einer nur scheinbar unvernünftigen Zeit, in der an Stelle von Schein die Wirklichkeit selber in Form von Dokumenten geliefert wurde: auch von der Literatur. Immer näher und also ganz nah wollte man an der Wirklichkeit sein und eigentlich drinnen in ihr mit dem, was man draußen machte mit ihr, oder eigentlich nicht: weil jede Bearbeitung Wirklichkeit wieder verdarb. Daß sie das aber schon war, nämlich verdorben, bemerkte man später. Und daß Arbeit an Material, das aus der sogenannten Wirklichkeit kam, also als authentisch gelten konnte, diese Authentizität wieder aufhob in einer Fiktion, ohne den Stoff zu verderben – das wird vielleicht heute erst erkannt. Das waren Zeiten. Das war ein Hunger nach Echtem. Das Præteritum gilt aber und auch nicht unbedingt nur für die Literatur.

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Das Echte hebt seine Anbeter selbst in seine Würde: so werden sie selbst für sich selbst Gegenstände des Glaubens ans Echte. So erfinden sie das, weshalb sie jede Erfindung verachten müssen. Erfundenes stört und Erfinden, wenn es um Authentisches geht. An Poesie darf sie nichts erinnern, soll das Sein nicht trügen.

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Verkehrtes Theater: Von der Bühne herunter schauen Manipulierte mit vorfabrizierten Sinneswerkzeugen in vorprogrammierter Künstlichkeit zu, wie in Wirklichkeit gespielt wird. Spielt Poesie dann in Wirklichkeit mit dieser Wirklichkeit: fällt der Vorhang.

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Und hinter dem Vorhang? Auf der Bühne, die ihre Weltbedeutung dem Zuschauer überließ in freigebiger Authentizität, also dort, wo es echter nicht zugehen kann, wo man sich selbst darstellt in Richtung Lüge, welche die Wahrheit zur Richtigkeit vollendet? Dort werden die Reihen geschlossen und auf der Stelle marschiert, bis Stillgestanden und Weggetreten und Geschrei – befohlen: vom Markt, siehe Medien oder direkt politisch -, in der Hauptmasse also vor echten Scheiben, unter dröhnenden Boxen, auf allen authentischen Böden so echt, so überzeugend glaubwürdig echt und noch echter, authentisch au­thentisch, daß alle Glieder aufrichtig werden und alle Gebärmütter swingen – bis Angetreten, wirklich, bis Wegmarschieren, echt wirklich, bis Stillgelegen. Aus.

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Der Redner hat sich hinreißen lassen – nicht vom Falschen, das verziehe er sich, sondern – unverzeih­lich, weil gängig – vom Untergänglichen. Es sei – und weniger drastisch – von Wirklichkeitsherstellern noch einmal die Rede, die Authentizität an die Leute bringen im Brustton höchster Überzeugung, der ihre Abnehmer, zum nassen Beispiel, an das authentische Wetter, nehmen wir an, ein schönes, ein sonniges, auch noch glauben läßt, wenige Minuten nach dem Bericht und unter dem Wolkenbruch.

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Das falsche Leben wird zwar fortgesetzt, aber niemand weiß damit etwas anzufangen. Zum wirklichen Leben, zum wahren, in Identität und Autonomie, kommt es auch nicht. Der Redner merkt an: sei Dank; er denkt an gepriesene Schwäche. Für ihn freilich wird, wie gesagt, die Authentizität aus dem Märchen behauptet wie aus der Geschichte als Märchen: der Wilde Rousseaus.

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Ein Falscher lügt, wenn er von sich als einer Person spricht, da er sich mindestens einmal täglich vermehrt um eine andere, die sich neu zusammenlügt in allem Ernst, um inauthentisch, also unzuverlässig leben zu können mit sich und mit anderen; realistisch ist das Falsche insofern: als die – auch von ihm – erfundene Wirklichkeit eine unzuverlässige Konstruktion vorstellt, was ein Falscher, der sich niemals auf Dauer selbst programmiert, auch wieder nicht immer glauben kann und es deshalb auch zulässig findet: sich nicht an eine derart unzuverlässige Vorstellung zu halten. Zusammenhang in seiner falschen Erscheinung garantiert ein Falscher mit einer Folge von Programmen, die sich gegenseitig in mehr oder weniger kurzen Abständen abhängen müssen, was sie abhängig macht voneinander. Wenn man hier noch von Identität sprechen will, dann auf Kosten einer Bereicherung dieser mit wenig autonomen Lügen, die beinahe unzählbar sein dürften. Wer authentisiert das?

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Richtige Authentizität ist immer manipuliert: wird sie veröffentlicht, dann verschlossen. Veröffentlichung, die diese Bezeichnung verdient, also eine Aufführung eigener Aufrichtigkeit und eine Vorführung richtiger Behandlung von Stoffen als Manipulation auszugeben, ist in unserer falschen Welt, in der Richtiges in der Regel nicht behauptet werden kann – Ausnahmen sind selbstverständlich, abgemacht -, die einzige Möglichkeit, sich mit der Lüge zur Wahrheit hin zu öffnen. Im Falschen wird offen ge­spielt. Das Falsche verlangt nach Öffentlichkeit. Das Dunkle im Falschen braucht ihr Licht nicht zu scheuen, wenn auch finstere Aufklärer und irrationale Rationalisten mit Fingern auf es deuten. Im Falschen macht man sich schmutzig, um reiner zu werden, würde ein Falscher sagen, wüßte er nicht, daß er es mit der Reinheit bis zur Beschmutzung in neuen Reden zu tun bekommt. Der Redner bittet um Schonung, auch seiner Zuhörer.

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Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm eine Maske, und er wird die Wahrheit sagen, sagt Oscar Wilde. Der Schein offenbart sich: die aufrichtige Lüge, die unverschleierte Maske – niemals das nackte Gesicht.

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Lüge, die Wahrheit vortäuscht, ist die Wahrheit, die vortäuscht, ohne Lüge zu sein. Authentizität, die vortäuscht, nicht manipuliert zu sein, ist wie Unechtes, das Echtheit vortäuscht. – Oder umgekehrt: Unechtes, das Echtheit nicht vortäuscht, ist Authentizität, die zugibt, manipuliert zu sein. Wahrheit, die zugibt, nicht ohne Lüge zu sein, ist wie Lüge, die Wahrheit nicht vortäuscht.

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Wie wenig irgendetwas von uns als authentisch erlebt werden kann, zeigt endgültig der Tod; seine Authentizität, unwiderlegbar anscheinend, ist so wenig zu beweisen wie sein Gegensatz, aus dem wir ihn nennen. So bleibt die Frage, ob ein authentisch Toter nicht die Lebendigen als authentisch Tote sieht, die Authentizität ihres Lebens also endgültig bezweifelt wie die Lebendigen seine.

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Wer hier auf die Zufälligkeit meiner Aussagen oder grundsätzlich auf die Unglaubwürdigkeit der Sprache des Menschen verweist und im fatalen Hinblick auf den Tod mit dieser menschlichen Sprache von der echten, wahren Sprache der Natur, der echten Sprache des Ganzen, der echten Sprache des Universums spricht, also von der Erfahrung in ihrer richtigen Authentizität, gibt Sätze, ihre Gegensätze, ihre Austauschbarkeit auf und zu, daß er an die eigene, wenn auch manipulierte Authentizität schon nicht mehr glauben kann, sprachlos wie er ist, in der Sehnsucht nach richtiger Inauthentizität.

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Ein Falscher hält sich in der Inauthentizität nur so lange auf, wie diese falsch bleibt: nicht allgemeingültig, nicht alles verfälschend, nicht Echtheit grundsätzlich verleugnend. Entartet sie aber zur Richtigkeit, weil diese behauptet wird, wird sie also zur richtigen Inauthentizität, so stößt ein Falscher sich ab zur falschen Authentizität, die Manipulationen offenlegt, zugibt, Autoren derselben beim Namen nennt, also keine Macht ausüben kann, und hält sich in ihr so lange auf, wie sie falsch bleibt. Entartet sie aber zur Richtigkeit, weil diese behauptet wird, wird sie also wieder zur richtigen Authentizität, die Manipulationen in ihr verleugnet, so stößt ein Falscher sich ab zur falschen Inauthentizität. – Ich wiederhole: Ein Falscher schaukelt nur so lange zwischen Falschem hin und her, solange er nicht behauptet, daß diese Schaukelei das Richtige sei.

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Noch einmal: Bequem ist sie nicht. Keine Ruhe. Ein Punkt wird zum Rückfall ins Einfache. Im Falschen kommt man aber einfach nicht durch. Jeder Satz muß sich krümmen. Keine Zielgerade für Ausdenken. Jedes Wort: entweder Falle zum Richtigwerden oder Hindernis, das Sätze umdreht zu seiner Erklärung: kein Weitersagen, jedenfalls selten. Weil das Falsche richtig gesagt sein muß, damit nichts Richtiges daraus wird. Und dennoch: bei falschem Leistungsdruck: schon Lust am Falschen, aus dem Wissen heraus: ohne Mühe keine Erregung.

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Von richtiger Authentizität spricht der Redner also nur dann, wenn von dieser behauptet wird: nicht die geringste Manipulation habe sie verfälscht. – Solche Echtheit ist so unwahrscheinlich wie die ganze Wahrheit: hier in dieser unserer falschen Welt. – In dieser falschen Welt findet irgendwo Wirkliches statt. Man stelle sich vor, wie das Wirkliche dem Besucher zuzwinkert, der Authentisches sucht. Was wird der Besucher statt Wirklichkeit finden?

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Das authentische Kind gibt es so wenig wie den authentischen Erwachsenen, auch deshalb, weil er sich zu oft einbildet, ein authentisches Kind zu sein, und, obwohl es nie richtig gelingen will, so lebt wie ein Kind, das sich den lieben langen Tag einbildet, ein authentischer Erwachsener zu sein.

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Wie dem Kind das Erwachsene als Zukunft in höchster Authentizität vorschwebt, so wahrscheinlich dem Erwachsenen das Entschwebte: er selber als Kind in der Vergangenheit: diese in besonders authentischer Währung: als goldene.

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Eherne Werte rechter Vergangenheit erlangen den zusätzlichen Wert von Authentizität, die jede Manipulation verleugnet durch Bewahrung in absoluter Verehrung im Abseits der politischen Verweigerung; derart sättigt der Rechtsradikale seinen Hunger nach Glaubhaftem, jederzeit in heroischer Bereitschaft: die Toten zu rufen und sich selbst in den Tod, als Zeugen vergangener – frontaler – Authentizität. Was ihn bindet ans Heute, ist nur noch sein authentisches Feindbild: der Kommunismus – und seine einzige authentische Aktion: der Krieg.

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Und gestern? … ein Drängen nach Verständnis für den Sinn des Lebens regt die jungen Glieder, schreibt der Ethnologe Leo Frobenius 1933; wir wissen, wie auch die alten Parteimitglieder ganz im Sinne ihres Führers drängten zum Krieg mit dem Sinnlosen, dessen Glieder zum größeren Teil weder morsch waren noch zitterten, sondern beschäftigt damit: das Sinnlose eines reinen, tiefen, ganzen Sinnes aufzuklären und die Suche nach ihm abzulenken in Friedensarbeit. Aber das deutsche Lebensgefühl war zu dieser Zeit eben echt, und wie – wie Frobenius, freilich in Unschuld, meinte: Das Authentische führte sich wortwörtlich auf, also entsprechend der etymologischen Deutung.

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Die Darstellung eines Volkes durch die Charismatiker des wahren Germanentums, das das Echte des westlichen Menschen verkörpere, beschreibt Furio Jesi, und richtig: das gewaltsam ins Recht gesetzte Echte richtete den Westen und den Osten Europas im Norden und im Süden zugrunde. Das behauptete Authentische zugelogen, wie eine behauptete Wahrheit zur Bombe: explodiert.

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Seine Mörder waren vereinfacht ins Schrecklichste: weder gut noch böse. Noch unerhörter: Als Mörder muß man ihnen Authentizität absprechen; das rückt sie ganz entsetzlich gemein an unsere liebste Seite. Wir werden uns deshalb hier nicht echt im untoten Grauen streiten: wir müßten uns selbst belügen und die Wahrheit herausschreien.

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Der Hunger nach Authentizität sättigt sich am Ende mit dem Tod: Unlust an Halbem, Pluralem, an fehlender Eindeutigkeit also, also an allem, was Einsatz nicht lohnt, das Ungenügen nicht stillt, keinen Sinn gibt, der intensiv gelebt werden will – weiht ein in die Religionen des Todes. Von ihren bisher letzten Altären heißt einer Auschwitz.

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Wie nach Kerényi noch viel den Mund vom Kelch trennt, und die authentische Mythologie uns so fremd geworden ist, daß wir, bevor wir sie wahrnehmen, stehen bleiben und nachdenken wollen, so stehen viele vor vielem als echt Beschrieenem und schreien mit, schnappen nach diversen Kelchen, die unbedenklich gereicht werden jenen, die nicht nachdenken wollen, ohne daß ihr Durst nach Authentizität jemals gestillt wird, auch nicht mit Blut. Die Wahrheit, richtig: sie, in neuem Kleid: als Authentizität, gewaltig, gewalttätig, mächtig, ist anziehender als je zuvor. Mit den Reizen der Lüge, der Illusionen, des Falschen – noch dazu geständig, freilich lachend entblößt – sind immer weniger Zeitgenossen zu verführen. Von ganzem Herzen zu töten, steht höher im Kurs, als mit halbem Herzen auszukommen miteinander; das gilt als Schande. Man beruft sich auf einen Herrn, der Laue ausspuckt, und verwirft die traurige Möglichkeit eines Friedens, der nicht einmal Anspruch auf Authentizität erhebt, nicht begreifend, daß er deshalb seinen Namen verdient.

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Die vollkommene Darstellung der Wirklichkeit müßte den Zusammenhang geben. Das aber ist nicht nur unmöglich, sondern schon wirklich, nämlich vorhanden, allerdings nicht durchschaubar. Davon wird noch einmal gesprochen, wenn es um originale, authentische Dokumente geht. Hier aber, in diesem Zusammenhang, in dem von Poesie gesprochen wird, in rückhaltlosester Darstellung übertreibend, muß vom haltlosen Wunsch nach dem Totum die Rede sein. Dieses vom Denken ausgefühlte und vom Fühlen durchdachte, immer wieder neu und immer wieder vergeblich vorgestellte Ganze wird zur monumentalen Darstellung des Scheiterns. Poesie bildet sich in ihm ab. Ich sehe das so. Und wenn in meinem Unsinn das Lachen eines Falschen darüber ausbricht, so läßt sich ohne viel Suchen aus dem Versteck hinter dem Wunsch nach dem Totum der zweite herausziehen, der dieses Scheitern meint. Die Fiktion kommt nicht ohne es aus, will sie sich in der Wirklichkeit nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Das Scheitern gibt einen Ernst ins Fragment, der die größte Annäherung an das Totum erlaubt.

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Die Fiktion kennt keine Scheu vor üblen Tricks, vor Lügen, vor Manipulationen, vor allem Gemeinen – wenn es ihr um das Totum geht. Und dieses ist selbst ohne solche Machenschaften keines, und alles muß in ihm wohnen, und wie es sich gehört: als Spruch und als Widerspruch: immer also tobend, übertrieben gesprochen von der Bewegung, mit welcher sich Poesie zur Ganzheit ausdehnt und nichts vergessen und nichts auslassen will, auch auf die Gefahr hin, daß alles ins Monströse gerät, weil dieses nur darstellen würde: wie Poesie in ihrem Sinne von Gerechtigkeit keine Stimme ungezählt läßt bei ihrer Sammlung aller Richtungen, aller Wesen, aller Gänge, aller Gedanken, aller Wünsche, aller Herzen, aller Stimmungen. Womit könnte sie alles das schlimmer fassen als mit dem Ernst ihres Scheiterns.

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Muß gesagt werden, daß ein Totum, wie es die Poesie zustande bringt – falsch gesprochen -, totalen Institutionen, totalen Lebenswelten ganz und gar widerspricht: als Monstrum die eingesagten Gleichheiten wieder hinausschreit, alle vollkommenen Übereinstimmungen ganz und gar verstimmt, das Unverwechselbare in seine Wechselbäder wirft, alle inneren Einheiten ausstülpt, alles Bestimmte stummt. Es muß gesagt werden in einer in totalitäres Verhalten verliebten Zeit. Das Totum eines Falschen findet in keiner Richtigkeit Platz. Alles Identische scheut die Poesie.

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Ich weiß auch, warum. Weil Poesie die identischen Muster auftrennt. Davon muß geredet werden, wenn es auch schmerzt. Wenn es auch gegen den guten Geschmack ist. Aber das verschmerzte man auch noch. Es geht jedoch gegen die Person, gegen ihre Rechte, gegen Wissenschaft, gegen ihre Gewissenhaftigkeit. Poesie aber darf nicht nur quasi schlampen, sie muß: sie erzählt. Sie erzählt etwas auf. Sie löst. Sie zerstreut. Sie hält nicht zusammen, sie unterhält auseinander. Indem sie, was gesagt wurde, weitersagt, beginnt sie zu rumoren. Wie die Sage das sein kann, ist sie Denunziation. Auch ihr Gegenteil. Sie rühmt über alle Maßen. Sie setzt da gar kein Verdienst voraus. Ein Leben ist ihr so viel wert wie eine Erzählung. Sie würde leben lassen, um darüber erzählen zu können. Sie läßt die Toten nicht in Ruhe, weil sie vorgibt, diese würden nicht wünschen, in Ruhe gelassen zu werden. Sie würden aus ihrem gelebten Leben heraus erzählt werden wollen. Poesie vervielfältigt sie. Der eine Nachruf wird lächerlich. Biographien werden von ihr in Späße eingelacht, aufgeweicht, ausgelogen, auseinandergetropft. Die Vergangenheit regnet Geschichten. Alles Ungelebte fällt in die Gegenwart zurück. So wettert die Poesie mit den Zeiten herum. Die Vergangenheit erklärt sie zur Zukunft, damit die Toten verändert werden können, rundum, immer wieder, ohne Ende. Damit die Poesie die Toten nicht nacherzählen muß, sondern diese sich immer wieder neu in der Zukunft voraussagen lassen können. Auch die Lebendigen: die haben auch Totes in sich. Das darf so tot aber nicht bleiben. Das darf so einmalig nicht stehenbleiben. Das muß als etwas ganz anderes und nicht nur einmal in die Zukunft gesagt werden. Und so fort. Und so weiter. Poesie zitiert alles und wohin sie will. Vor allem: so ungenau wie nur möglich und ganz und gar in das Falsche. Poesie ist keine Wissenschaft, Poesie zitiert falsch.

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Ich zitiere hier genau, aber verkürzt, eine Passage aus der Biographie von James Lord über Alberto Giacometti. Meine gewissenhaften Zitate beginnen auf Seite 411 der deutschen Ausgabe. Als Giacometti sich daran machte, die Analyse seines alten Freundes Sartre Die Wörter zu lesen, traf ihn auf Seite 193 ein harter Schock (ich habe hier umgestellt). Er las dort folgendes: Vor mehr als zwanzig Jahren wurde Giacometti eines Abends beim Überqueren der Place d’Italie von einem Auto angefahren. Er wurde verletzt, das Bein war ausgerenkt, aber in dem wachen Dämmerzustand, der ihn befallen hatte, spürte er zunächst so etwas wie Freude: »Endlich einmal erlebe ich etwas!« Ich kenne seinen Radikalismus: er war auf das Schlimmste gefßst. Sein Leben, das er so sehr liebte, daß er sich kein anderes zu wünschen vermochte, war in Verwirrung geraten, vielleicht sogar durch die stupide Heftigkeit des Zufalls zerbrochen. Nun sagte er sich: »Also war ich nicht dazu bestimmt, Bildhauer zu werden, vielleicht war ich nicht einmal für das Leben bestimmt; ich war zu nichts bestimmt.« Ich beende hier das Zitat aus Les mots. – James Lord schreibt dazu: Giacometti war wie vom Donner gerührt … Die Worte des Schriftstellers … trafen ihn in einem Bereich seines Lebens, den er am allerwenigsten gerne in der Öffentlichkeit preisgegeben und verfälscht gesehen hätte. Zwar sprach er selbst häufig von dem Unfall. Keinem seiner Freunde war die Geschichte unbekannt … Jeder wußte, daß der Unfall an der Place des Pyramides und nicht an der Place d’Italie geschehen war, und niemand, der Alberto kannte, wäre auf den Gedanken gekommen, er hätte als Reaktion auf den Unfall gesagt … Ich muß hier nicht wiederholen, was Sartre schrieb. Jetzt kommen die Sätze von James Lord, die von dem Unverständnis zeugen, das ich hier beschreiben will: Wie konnte er (Sartre) die Wahrheit eines anderen als eine lebende Lüge anbieten? – Leben ist Bedeutung, nicht Faktum, und Alberto wußte besser als die meisten, daß die Fakten von gestern nicht zwingend die Wahrheit von morgen sein müssen. Giacometti suchte die Wahrheit. Seine Lügen gehörten ihm, wenn er sie erzählte, und Sartre hatte nicht mit ihnen herumzuspielen. Verwirrende Sätze. Wie kann jemand von Lügen-Besitz reden, der weiß, daß die Wahrheit nicht zu haben ist. Aber es kommt noch schlimmer: Es gab keine Versöhnung … Sartre konnte das nicht begreifen. … Indem er alle Fakten falsch verstanden hatte, zeigte er (Sartre), wie wertlos sie sind, wenn sie nicht von einer umfassenden Wahrheit beleuchtet werden. – Sartre war nicht im Besitz ›einer umfassenden Wahrheit‹. Wie wahr. Er schrieb über sich in Les Mots. Er dichtete sein Leben, dessen Anfänge. Wir alle sind nicht im Besitz einer umfassenden Wahrheit. Wenn wir von uns reden, reden wir von einer Fiktion. Aber dürfen wir nur über uns reden? Ich rede hier nicht von gutem Geschmack oder gar von Charakterstärke und gerechter Zurückhaltung. Ich rede von Poesie. Warum, frage ich mich, hat Sartre in diesem Streit nicht von Poesie geredet. Ich zitiere wieder James Lord: Als Sartre nach Albertos Tod gefragt wurde, wie es möglich war, ein Ereignis auf die Place d’Italie zu verlegen, von dem doch jeder wußte, daß es anderswo geschehen war, zuckte er die Achsel und meinte: »Vielleicht, weil ich schon immer eine Vorliebe für die Place d’Italie gehabt habe.« Sartre hat meine Verteidigung nicht nötig. Ich erinnere aber an das falsche Zitat im schlimmen Zusammenhang der Poesie, den ich – zugegeben – zu gern dem Leben als gutes Verhängnis hinterließe. Warum hat Giacometti nicht gelacht?

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Poesie ist das Gedächtnis, in dem wir alle und alle vor uns und aus uns: Lebendige, Tote, Erfundene weitererzählt werden müssen, soweit die Ungenauigkeit reichen kann, bis wir einander nicht mehr wiedererkennen. Besonders mit Künstlichen und mit Toten tun wir uns da sehr leicht, wie ich zu zeigen versuchte; in der Annahme auch, ihre Widerspruchslosigkeit drücke eindeutig ihren Wunsch nach Fortsetzungsgeschichten über sie aus. Und nur deshalb halte ich die Erklärung vom Tod Gottes im 19. Jahrhundert – abgesehen von der Vermutung seiner eigenen Urheberschaft – für poetisch doch brauchbar, da der Fortsetzungsroman von Gott dessen Unerkennbarkeit nur immer geschöpflicher bis noch schlimmer menschlicher steigern könnte, bis er vielleicht nicht mehr nur als unser Bruder wie Jesus, sondern als unsere Schwester unter uns herumläuft; ins Animalische wurde ein Gott schon drei Zeiten vor uns erzählt; um einen solchen geht es hier sowieso nicht. – Uns genügt, daß er Mensch werden kann. Anders kann man ihn gar nicht weitererzählen, wohin denn? Hinauf? Schon geschehen. Höher geht es nicht mehr. Weg? Klappte nicht. Also herunter muß er erzählt werden. Und das Gedächtnis der Poesie ist lebendig und hört mit Erzählen einfach nicht auf.

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Ist das gefährlich? Aber von Eingriffen Gottes ist nicht die Rede. Poesie glaubt an ihre eigenen Sätze nicht, geschweige denn an solche des Glaubens. Und was sie erzählt, ist so wenig wahr wie erlogen. Man stelle sich vor. Mehr nicht. Und schon gar nicht weniger, wo es am meisten immer noch mangelt: Poesie läßt nichts aus.

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Ist eine Welt vorstellbar, in der das Lügen zur liebsten Gewohnheit wird, weil niemand in ihr sich anstrengen muß, sie als solche zu offenbaren; man wüßte Bescheid, man wäre im Bilde dort, wo man im Frieden richtige Wahrheiten vergißt und höchst ungerecht in Urteilen übereinander sich in die Arme fällt.

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Ist eine Welt vorstellbar: wo eine Authentizität, als manipulierte ausgegeben, zur zweiten ernannt wird, zur dritten, zur vierten und so weiter hinaufnumeriert? Und wird das wahrer, je öffentlicher wir uns aus der einen Authentizität in die nächste erheben, bis unsere Lügen immer authentischer werden? Oder macht mich die Liebe zur Wahrheit jetzt echt blind?

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Dann lieber wieder die Liebe zur Lüge: Zwei Lügner sollen sich falsch im falschen Leben umarmen. Sie wissen Bescheid. Sie lieben sich deshalb. Besserungen sind also hier nicht geplant. Ihre Liebe kann Pädagogik entbehren, also jede Gewalt, die den entsprechenden Eros zeichnet. Lügner lassen Lügner leben in derselben Wahrheit, daß keiner sie hat. Geständnisse werden nicht veröffentlicht, wenn: abgewiesen. Keine Moral: sie wäre der Tod ihrer Liebe. Die Moral: ohne sie bleibt die Liebe am Leben.

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Wahrheit in aller Unrichtigkeit ist nicht die eine, die einzige, nicht als geoffenbarte die mächtige, Sein beanspruchende, sondern als erfundene gleich der erfundenen Lüge, die in Wahrheit ohnmächtig ist und in aller Unrichtigkeit nur den Schein beansprucht, den sie offenbart wie die Wahrheit nur ihre Wahrscheinlichkeit, mit welcher die wahre Lüge so wenig Schaden anrichtet wie die gelogene Wahrheit, die sich so wenig zulügen läßt wie die Lüge, weshalb sowohl die nicht geoffenbarte Wahrheit als auch die nicht verborgene Lüge sich durchschauen lassen, ihre Schwächen offenbarend in einem falschen Augenblick, der sich Dauer verschafft in einem Satz wie diesem, welchen ein Falscher mit der Feststellung noch nicht ganz enden läßt: es hätten soeben Gegensätze außerordentlich vereint ihre Gegenpositionen gewechselt im falschen Spiel, in Abwesenheit nicht nur von Richtigkeiten, sondern auch der Möglichkeiten zu solchen – solches sei aufgeboten worden für einen möglichen Frieden, der schon als solcher in aller unechten Authentizität mögliche richtige Gläubige abweise mit durchaus echter Unglaubwürdigkeit, um sich nicht mit dem Krieg erklären lassen zu müssen.

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Wir haben in der Wahrheit und in der Lüge nichts verloren. Die Wahrheit aber hat in der Lüge, die Lüge hat in der Wahrheit etwas verlogen. Gesucht sind wir. Und die Wahrheit ist kein Versteck, und die Lüge darf es nicht bleiben. Und zu verlieren haben wir nichts, leider schon gar nichts Echtes; nur Falsches, sei Dank. Und zu gewinnen haben wir auch nichts, nichts Echtes, leider – und leider nichts Falsches, könnten wir klagen, hätten wir nicht schon genug davon. Wir müßten lügen, wären wir damit zufrieden. Um die Wahrheit zu sagen: Wir würden sie nur zu gerne sagen. Wir müßten aber lügen, würden wir sagen, wir müßten lügen. Gut ist – die Wahrheit, aber hinter den Bergen und so weiter, tausendmal besser ist in Wahrheit öffentlich spielende Lüge, keine Feierlichkeit, keine Würde, kein Stil, die Moral davon: keine, nur märchenhafte Wahrheiten von unglaublichen Lügen in unzähligen falschen Authentizitäten. Ein Falscher ist noch beim Zählen. –

Paul Wühr: Das Lachen eines Falschen. Wiener Vorlesungen zur
Literatur. Mit Bildern von Jürgen Wolf. München (K. Kieser Verlag) 2002
(= écart 1), S. 7-35. (Wir danken dem Verlag für die Genehmigung der Wiedergabe.)