Paul Wühr, Inge Poppe-Wühr, Walter Grond: Ein Briefwechsel.

PAUL WÜHR

Le Pierle, 15.11.98

Lieber Walter,
jetzt habe ich Deine Feinde so viele schlimme Sachen über Dich sagen hören – in »Der Soldat und das Schöne«– daß ich am liebsten selbst gegen sie schriebe. Ganz unfaßlich ist das. Soviel (Bairisch) Hinterfotzigkeit darf es doch nicht geben. Jetzt liest Inge; auf mein Erzählen hin hat sie sich entschlossen: eine Dokumentation über die Autorenbuchhandlung zu schreiben. Du hast ihr Mut gemacht. Sie hat in ihrer Krisenzeit in München Grazian gelesen. Ich erinnere. Sie hatte lange Zeit auch diesen dunklen, vom Brüten finsteren Gesichtsausdruck gehabt, den ich vor Wochen bei Dir bemerkte. Da ist kein Zorn mehr, aber unheimlicher Durchblick, nur noch ein Rest von Vertrauen. Ich kann nur immer wieder und nur als Autor bestätigen, daß Du alles unternommen hast, was ich jetzt nachlesen konnte: für die Autoren. Geschrieben ist Dein Buch so direkt, daß ich in der vergangenen Woche einen Tag lang – vom Morgen bis zum Abend – beinahe pausenlos las. Schlimm quälend baust Du ein Szenarium in das andere hinein, auch ein Szenenpanorama bauend, daß man vom Text geschluckt wird: geschluckt wird sowieso viel, aber Spaß in diesem Fall beiseite. Da gibt es ja gar nichts zu lachen. Wie sich die Allmeier (S. 189) – immer mit gutem Gewissen – gegen Brand wendet – das ist ein Meisterstück. Sie kommen sich nun übrigens alle nicht schlecht vor bei aller Kabale. Soviel Gutherzigkeit bekommt Brand zu spüren. Alles Gutgemeinte läßt Du hier auftreten bis zur »an den Rändern dunkel und trocken gewordenen Mayonnaise«. Auf S. 202 oben: da wird es grell; jetzt legt diese Person los. Die Allmeier verkehrt ihre kleine Welt: damit sie handeln kann. Was ich schon andeutete, auf der vorletzten Seite dieses stählernen, dröhnenden , grollenden und nie sich weich widersprechenden Buches, kommst Du mit dem Satz heraus »ging ihm die fixe Idee durch den Kopf, ein Menschenfreund werden zu wollen«. Da muß ich befreit auflachen. So spricht ein Rächer, kein Zyniker. Lies nach bei mir: In der Poesie fließt kein Blut. Oder wie Du Dir nach diesem mächtigen Buch ernsthaft vorstellen willst, wie –.. ach was, Präsidium a. D. Schreib. Du kannst hinreißen und – her. – Wir fuhren nach dem Besuch bei Euch zu Czernin, lasen laut in seinen 15 Arabesken »Anna und Franz« – märchenhaft, liefen in den Wald zu seinem Forsthaus und redeten, auch mit Adriana, wir schauten ihre Bilder an in einem schönen, großen Arbeitsraum. Inzwischen waren wir schon wieder oben – diesmal in Deutschland. Ich sitze jetzt wieder an »Venus im Pudel« , habe ein schlechtes Gewissen, immer dann, wenn sie nur moralisch, heldisch, leidensfreundlich und vor allem rein kommen: die Menschen in den Medien und tröste mich mit einem Wachauer; der ist schon weg. Von Saskias Lösungen habe ich viel erzählt. Bei Christine ging es uns sehr gut. Das ist gut, wie schön ihr da an der Donau sitzt. Wir waren inzwischen schon oft bei Euch, wobei das Treppensteigen so wunderbar leicht »fällt«. Seid alle gegrüßt – herzlich Dein Paul


WALTER GROND

Aggsbach, 22.11.1998

Liebe Inge, lieber Paul,
herzlichen Dank für die viele Post. Saskias Dank stecke ich in ein Kuvert und schicke es Euch, sie legt Wert auf den Wert Ihres Autographen.
Wir waren bald nach Eurer Abfahrt selber so mit der steigenden Donau beschäftigt, daß wir gar nicht auf die Idee kamen, die westlichen Hochwasser auf Euch zu beziehen. Für die Donau gab es auch schon Alarm, obwohl wir nie das Gefühl hatten, wirklich von einem Hochwasser bedroht zu sein. Sie sank dann auch, gut einen halben Meter unter Straßenniveau.
Inzwischen schneite eine gute Nachricht ins Haus. Für einen Teil meines im Frühjahr erscheinenden Essaybandes „Der Erzähler und der Cyberspace“ bekomme ich den erstmals vergebenen Ö1-Essaypreis. Das macht 30 000 ÖS und, da von einer prominenten Jury zugesprochen und vom Rundfunk vergeben, ein lächelndes Gesicht. Ich bekomme ihn am 9.Dezember in Wien überreicht. Paul sagte, von jetzt an wird es besser und dann das. Kurz darauf bekam ich vom Forum Stadtpark (!) und von der Alten Schmiede eine Leseeinladung. Ein bißchen wenigstens ist die Front aufgerissen.
Daß Saskia mit Händlers Daniel spielen könnte, reizt uns sehr. Wir haben aber für die „Energiewoche“ schon den Schwiegereltern zugesagt, die mit Saskia Skifahren wollen. Christine und ich haben jetzt besprochen, am liebsten Ende Jänner nach Passignano zu fahren. Da würde die Schwiegermutter für eine halbe Woche nach Aggsbach fahren und für Saskia sorgen können. Ich bin am 22./23.Jänner wieder in Klagenfurt. Christine und ich würden am Sonntag den 24. mit dem Zug nach Passignano fahren und bis Mittwoch den 27. bleiben können (am Donnerstag müssen die Schwiegereltern wieder in Graz sein, weil da Ordination ist). Ist Euch das recht?

WALTER GROND

Aggsbach, 22.11.1998

Lieber Paul,
daß mein Buch Deinem Leseverstand standgehalten und es sich sogar einen Brief von Dir verdient hat, läßt mich ganz leichtfüßig durch das Haus gehen und putzmunter sein, obwohl ich sehr müde bin. Ich kam nämlich gestern Nacht aus Klagenfurt zurück, wo ich meine zweite Blockvorlesung gehalten hatte; ich hatte während der Reise zweifach an Dich gedacht, und dann empfing mich Christine mit Deinem Brief, vor dem ich mich – muß ich schon zugeben – ein bißchen gefürchtet hatte. So ich künstlerisch an diesem Stoff nicht gescheitert bin, bin ich jetzt auch mit den persönlichen Wunden im Frieden. Also zweifach hatte ich an Dich gedacht: zum einen, weil ich seit einem Jahr an furchtbaren Schlafschwierigkeiten in Hotels leide, so die Übernachtungen mit Arbeitsauftritten zu tun haben. Ich bin weniger nervös denn je, aber kann einfach nicht schlafen. Wälze mich im Bett, nicke dann ein zwei Stunden ein und bin am nächsten Tag so müde, daß mir das Reden schwer fällt. Seltsam ist für mich die körperliche Dimension einer offenbaren Wunde, mit der mich die Grazer Geschichte zurückließ. Ich komme in Aggsbach inzwischen mit allem wirklich gut zurecht, aber „draußen“ offenbaren sich Spuren, die mein Körper trägt, Spuren, die ich in meinem Bewußtsein gar nicht so wahrnehme. Da dachte ich an Dich und wie Dir Bewegungen „draußen“ auch oft schwer fallen. Ich redete mir ein, daß es mir ein bißchen so geht wie Dir. Der Panzer, den das Schreibreich bietet, ist mächtig und fragil zugleich. Im Zug nach Wien dachte ich dann weniger an Dich, als daß ich mich dem Klang Deiner Stimme überließ. Ich hatte Christines Taschen-CD mit und hörte – wie oft in den letzten Wochen – Deine Gedichte. In der Kopfstütze zu lehnen, die Landschaft vorbeifahren zu sehen und Deine Poesie aus dem Kopfhörer klingen zu hören – so gelesen, wie nur Du sie lesen kannst – hat eine wirklich psychedelische Wirkung. Paul, in dieser Kombination ist Deinem Zuhörer ein Genuß gegönnt, der einen sagen läßt: ich bin in diesem Augenblick Wührs Geschöpf. Das oftmalige Hören in den letzten Wochen bestärkte mich auch zu einer Hybris, gegen die ich aber nicht ankomme. Ich sagte Dir schon in Aggsbach, daß ich in meinem Essay, der im Frühjahr erscheint, „Der Erzähler und der Cyberspace“, behaupten möchte, mit Dir vollendet sich die Poesie. Du sprachst davon, Dich nicht wie andere zu Büchern äußern zu können. Ich kann das im Grunde auch nicht, bewundere Ferdinand für seine genauen Analysen, die ich einfach nicht zustande brächte. Ich kann nur im Rausch einer Lektüre spekulieren, und jetzt hoffen, daß Du gütig beurteilen wirst, was dabei über Dich herauskommt. Das Hören der CD hat mich also bestärkt, Folgendes zu behaupten, und ich konnte auch nicht dagegen an, das Bild unseres „Fernsehgespräches“ einzubauen: „Was die Metaphysik seit Platon in einen ‚Abgrund der Albernheiten‘ ausgeschieden hatte, kehrt mit den Medien wieder. Als Riß in der Sprache taucht die mediatisierte Verfaßtheit des heutigen Menschen in der Poesie Paul Wührs auf, in der Zweifel an jeder gewaltsamen Aufteilung in richtig und falsch geweckt wird. In den auseinandergerissenen Sätzen der Wührschen Gedichte wird die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt. Der Abgrund, der sich im Riß der Wührschen Sätze auftut, macht das Rauschen hörbar, in dem sich, so Ulrich Sonnemann, die Sounds der Jahrtausende in wirrem Wechsel verdichten. In der Dichtung Wührs ist das Jenseits aller Literatur, Rhetorik und Schrift hörbar, all jener europäisch abendländischen Versuche, der Zufälligkeit und Sinnlosigkeit der Welt durch Komplexitätsverringerung beizukommen. Wührs Verdrehung von richtig und falsch beabsichtigt keine Korrektur, sondern nimmt vorweg, was ein Computer können wird müssen, um zu einem sprechenden Wesen zu werden. Er wird Ordnung auch und gerade in der Neigung zur Unordnung entdecken müssen. Sein abgehacktes Sprechen könnte den Wührschen Satzrissen gleichen, aus der Information auftaucht und wieder hinuntergerissen wird. Wührs Verdrehung von richtig und falsch macht aus den Wahrheiten das, was von der Information gesagt wird: Inszenierung von Neuheit. Wührs Strategie ist die Überstrapazierung der Poesie, sein Werk ein Rhizom, wie Deleuze es gedacht hatte, ein System aus Verknotungen, Zeitachsenverschiebungen und Spuren von Hierarchiezusammenbrüchen. Wühr verwirft die Vorstellung, daß ein Entwurf im Widerspruch zum anderen steht, und daher, sobald er vollbracht ist, eine Debatte eröffnet. Wühr schafft einen Datenraum mit Ein- und Ausgängen, die Echtzeiten schaffen, in die wiederum das Zufällige einbricht. Wenn er seinen Sprechern das Wort abschneidet, sprechen sie hinter der Oberfläche weiter, wie auf dem Fernsehschirm, auf dem der Benützer von Programm zu Programm switscht, einem mächtigen Sprecher das Wort abschneidet und das Wort eines anderen aus dem Satellitenrausch an die Oberfläche holt. Paul Wühr macht die Information selbst zum Thema.“ Ich nenne dann „Salve Res Publica Poetica“ ebenso wie Finnegans Wake und den Rave im heutigen Techno ein Totalereignis, „hinter“ dem es nichts mehr geben kann, weswegen auf Totalereignisse wiederum Erzählungen und Selbstermächtigungen von Erzählern folgen usw.
Was Du über den Soldatenroman schreibst, hilft mir ja viel mehr, als ich Dir sagen kann. Zwar kann ich ganz gut damit umgehen, daß die allermeisten nicht über den Roman reden, sondern über meine Motive, etwas zu schreiben, was zu schreiben, der betriebliche Konsens verbieten will. Daraufhin jetzt aber Deiner Lektüre folgen zu dürfen, hat mich wirklich ergriffen, und Dein abschließendes „Schreib!“ klebe ich mir unter den Bildschirm als mein tägliches Gebot. Dir kann ich sowieso nichts vormachen; was Du über Inges Erfahrung mit der Autorenbuchhandlung und ihrem Gesichtsausdruck gesagt hast, den Du auch an mir bemerkt hast! Da fühlte ich mich richtig entblößt, da ich doch so darum bemüht bin gar nichts herzuzeigen. Und daß Du dann bei Herrn Brands abschließender fixer Idee auflachen konntest! Weiterschreiben.
Lieber Paul, ich weiß, was für eine Überwindung es für Dich bedeutet, einen Brief zu schreiben. Ich danke Dir von ganzem Herzen. Bitte lasse Dir Zeit und fühle Dich nicht unter Druck gebracht, es bald wieder zu tun. Am Ende verfluchst Du mich. Christine und ich möchten Ende Jänner für ein paar Tage nach Passignano kommen. Euer Besuch hat uns aus unserer Verschrecktheit hochgerissen, wir sind sehr glücklich, daß Ihr mit unserem Leben an der Donau zufrieden seid.

INGE POPPE-WÜHR

Passignano, 26. April 1999

Liebe Christine, lieber Walter,
so lange Funkstille und noch kein dankeschön für Dein Buch, entschuldigt, aber die Ereignisse haben sich überstürzt in den letzten Wochen. Auf alle Fälle haben wir während dieser letzten Lesereise viel Reklame für den Titel gemacht und bestimmt zehn Leute überzeugt, es sofort kaufen zu müssen. Paul wird sich sicher noch selber dazu äußern. Im übrigen haben wir von Deutschland nun derart die Nase voll, daß wir in diesem Jahr nicht mehr hinfahren (d.h. ich Arme muß zum Zähnemachen in den Westen), wir halten es jetzt mit Joyce: silence, exile, cunning.
[…]
Seid gegrüßt von
Paul und Eurer Inge
Anbei die Unterlagen für Wien bzw. Graz! Grazie!

PAUL WÜHR

Passignano, LE PIERLE, 27. April 1999

Lieber Walter,
ich lese immer noch: immer wieder. Das ist schlimm neu – besonders für mich. Und ich soll da beteiligt sein? Du schreibst hart, unbedingt wie ein Feldherr (Soldat?) So muß man wohl mit der heutigen (schon gestrigen!) Literaturszene reden. Wie Du das Mittelmaß herbeilockst, das kann mir freilich nicht gefallen; Deine Sprache ist nicht Mittelmaß, deshalb höre ich sie so gern. Wahrscheinlich verstehe ich Dich noch nicht einmal halb. Wie geht es weiter? Laß hören, bitte. Ich lobe und preise überall Deine Kriegserklärung,
herzlich Dein Paul

PAUL WÜHR

Passignano, LE PIERLE, 3. Mai 1999

Lieber Walter,
Inge läßt liebe Grüße ausrichten: sie liest mit Begeisterung Dein Buch »Der Erzähler und der Cyberspace« ; sie spricht von Deinem riesigen Wissen und deshalb eben weitem Horizont. Ich hoffe, daß viele so denken. Ich werde, wenn sie fertig ist oder durch : wieder zu lesen beginnen; bestimmt war ich anfangs zu betroffen. Ich sah auch nicht, wie es mit der Literatur weitergehen soll. Als Figur an ihrem Ende kam ich mir vor – und das macht schon verrückt. Du verstehst. – Auch bin ich seit langem nicht gut drauf. Das trifft bei mir genau zu. Es kommt wenig aufs Blatt. Ich weiß gar nichts von »Venus im Pudel« und ich arbeite, was den »Wirren Zopf« angeht: zu sehr irgendwo und immer irgendwie in der Luft. Meistens höre ich ja gar nichts mehr von mir. Die letzten Lesungen im April waren interessant. Aber ich schloß immer ab. Das macht nicht lustig. Am Ende las ich in einer Synagoge: dort, wo der Rabbi liest. Ermreuth. Schlimm. Auch störten mich viele junge Leute nur weil sie jung waren. Ich muß Dir das einmal erzählen, wie sie mich anschauten. Anreden wollten sie mich gar nicht. Das macht nicht jünger. Wäre Inge nicht. Hier ist es zum Fürchten schön und gut und warm und licht. Ich werde gleich mal wieder in den Garten treten. Nach einem solchen Satz kann ich es ja gleich sein lassen. Es ist jetzt 15:30, noch zwei Stunden bis zum Bier, dann verfolge ich einen Mörder oder bin in diesem der Verfolgte oder verfolge eine der unendlich blödsinnigen Kosovorunden: lange nicht mehr haben die Deutschen sich so verbrecherisch philosophisch aufgeführt. Mit dem linken Auge fliehe ich ins dämmernde Grün – selbst schon verdämmernd. Liebe Grüße an Christine und Saskia. Eine kurze Zeit hier auf dem Blatt an der Donau
Dein Paul

INGE POPPE-WÜHR

Passignano, 4. Mai 1999

Carissimo,
Paul hat sich etwas gekränkt, was er aber Dir gegenüber nicht zugibt, und nur durch ein Gespräch kommen wir weiter: In „Literatur als Grundlagenforschung“ scheint seine Literatur die Zukunft zu bedeuten, und im nächsten Kapitel wird SALVE… als Sackgasse bezeichnet. Für FINNNEGANS WAKE einverstanden, aber SALVE…Hast Du eigentlich ein GEGENMÜNCHEN? Vor 30 Jahren war der Wühr schon viel weiter als viele jüngere Autoren jetzt. Ich habe kürzlich ein Exemplar bekommen, das jetzt aber in München steht. Du wärst der einzig Würdige dafür. Molto d’accordo mit Deinem Simmel und Der Geburt des Autors nach dem Tod des Autors. Saluti
Inge

WALTER GROND

Aggsbach, 12.5.1999

Liebe Inge, lieber Paul,
ich habe heute das Kuvert, mit dem ich Dir die Kopien retourniere, zur Post gebracht. Saskia, die sich über die Bilder immer sehr freut, hat Euch eine Zeichnung fabriziert und zum Dank beigelegt.
Ich habe die Unterlagen für die Ausstellung an Heinz Lunzer weitergegeben, er reagierte nach einem Gespräch mit mir nicht ablehnend, ich werde weiter dranbleiben, ob ich etwas bewirken kann, weiß ich nicht recht.
[…]
Wir nervöserln derzeit wieder, weil Christine noch keine Verlängerung ihres Projektes, das jetzt im Juli abläuft, zugesagt bekommen hat, und bei mir geht ohnehin wenig bis nichts. Silence, cunning gilt für uns auch.
Saskia geht ihren ersten großen Ferien entgegen und liest uns stolz ihre Bücher vor. Bis bald, ganz herzlich

WALTER GROND

Aggsbach, den 13.5.1999

Lieber Paul,
ich war gerade dabei, mir einiges auf Deinen ersten fulminanten Brief hin zurechtzulegen. Etwa, warum ich meine, daß eine Kategorie wie „Mittelmäßigkeit“ aus meiner Sicht inzwischen nicht mehr langt, um zu beschreiben, was an Veränderung geschieht, so man nicht (was freilich hoch legitim ist) einem klaren Kulturpessimismus das Wort redet.
Da ich in mir selbst diesen Kulturpessimismus nicht verspüre, meine ich auch nicht, einen Krieg zu führen. Vielmehr möchte ich mich von einer kriegerischen Ästhetik (hiemit auch einem kriegerischen Lebensentwurf) verabschieden, und habe dabei den Magus im S, den, der am Wasser sitzt und mir das, was ich auf meine Weise am Ufer der Donau zu tun gedenke, auf seine schon lange und unnachahmlich zu tun scheint, im Auge (und ich bin fest überzeugt, ein Lehrling des Falschen zu sein – daraus den Schluß ziehend, daß damit etwas zu Ende gebracht ist, woraus das Rettende usw.). Ja, ich bilde mir ein, auch wenn ich ein wenig von den Antlitzen der Jungen, die Dich erschrecken, in meinem Denken haften habe, daß es in mir ganz ähnlich wühlt wie in Dir. Ich will diesem „schlimmen“ Neuen sehr gerade ins Gesicht schauen, nicht ängstlich (das lernte ich schließlich von Dir! Furchtlosigkeit!) und nicht auf diese epigonale Weise, wie es im Schutz der autonomen Zone Kunst derzeit die allermeisten tun. Im übrigen schreckt mich das auch selbst, was auf die Literatur zukommt, aber fasziniert mich zugleich, und so forciere ich etwas wie Selbstsubversion: versuche das vom „hohen Sockel“ herunter zu holen, was ich am meisten nötig habe. Du sagtest am Parkplatz und am Tisch: der Geist ist, was bleibt! Ja! Herunter mit allen Ideologien! Das, meine ich, ist die Konsequenz der Verwissenschaftlichung, am Ende sich selbst den Garaus zu machen. Nur das Fragment lügt nicht (womit tatsächlich auch etwas ermächtigt wird, was heute diese „schlimme, globale Kulturmatrix Mischmasch“ betrifft. Oder noch anders gesagt: mir bietet der Kulturpessimismus keinen Schutz, weil er zu vielen Schutz bietet, die nur mittelmäßig sind.
Jetzt langt heute Eure zweite Post ein (die mich wie jede Zeile von Euch beiden riesig freut) und ich lese erschrocken, daß ich Dich gekränkt habe. Aber ich bin davon überzeugt, verlaubs, daß ich Deiner Poesie da keinen Bärendienst tue. Vielleicht kann ich dazu beitragen, das aufzuklären; oder meine Gedankenwelt ist wirklich heillos verdreht, weil ich so gegenläufige Begriffe wie „Sackgasse“ und „Zukunft“ ganz beieinander verstehe. Denn zuallererst wollte ich eins: bei allen Zweifeln, die ich inzwischen an gewissen Glaubensregeln der Moderne hege, Deine Poesie außer Zweifel stellen und beschreiben, warum sie für mich außer Zweifel steht.
Mir geht durch den Kopf, daß jener apostrophierte Kulturwandel mit einer Vernaturwissenschaftlichung unserer Welt zu tun hat. Ich heiße das gut (aus vielen genannten Gründen, denke ich) und entdecke dabei, daß viele Spielregeln der Kunst in der Moderne koloniale Züge tragen. So ist das „Meisterwerk“, das jeder Feuilletonschreiber einmal jährlich in einer der Verlagsprogramme entdeckt, eigentlich etwas, was weniger ästhetischen Kriterien entspringt, als vielmehr eine bestimmte psychoreinigende Versprechung für Bildungsbürger darstellt (deswegen passierte vielen Büchern etwa von Handke der Ruf der Meisterlichkeit, eben weil sie reichlich triviale Esoterik liefern: ein Nachfolger ist dann etwa Raoul Schrott – und ich habe doch nichts anderes als eine Phänomenologie seines Erfolges geschrieben: auf dem Feld der Hochkultur spielt er einen DJ – ein funktionierender Trick für alte Damen. Ich finde, am Ende muß das immer in der völligen Umnachtung wie bei Handke enden).
Aber vor allem finde ich, der Grund für das Denken in Identitäten ist Ängstlichkeit, daraus entstehen dann Ideologien. Dem gegenüber steht der radikale Bruch (die Vernaturwissenschaftlichung), wie er in Netzwerkkulturen vollzogen wird. Ideologie wird durch systemtheoretisches fundiertes Handeln ersetzt (brutale Realitätsgerechtigkeit: eben das, was mich an der Situation heute ebenso erschreckt wie fasziniert). Dem entspricht ein ganz bestimmtes Kulturverhalten der jungen Generationen: wenn nur das Fragment nicht mehr lügt, gebietet „cooles“ Handeln ein changierendes Konsumieren wie Wechseln zwischen verschiedenen Milieus.
Was das für das Lesen von Literatur bedeutet, habe ich versucht zu beschreiben. Es hat auch zur Folge, daß die Benutzer einer fragmentierten Literatur selbst so fragmentiert leben, daß sie ideologischen Versprechungen nicht mehr trauen. Was mich nun fasziniert, war, daß meine eigene Einschätzung, „im Fluß“ einer ernüchterten Welt, würden aber trotzdem Großtaten von bleibendem Wert sein, deren Größe und Wirkung außer Zweifel stehen, mit der Beobachtung übereinstimmt, wie Hypertext-Leute im Internet mit Literatur umgehen. Ich nannte das „Totalereignisse“, die hohe Wertschätzung erfahren. Aus der Sicht der neuen elektronischen Kulturtechnik ( die sich als die avanciertere versteht), stellen eben Werke, gerade diese Totalereignisse, Grundlagen für eine Transformierung der „alten“ in die „neue“ Kultur dar. Und dorthin stellte ich Dich, ja pries ich Dich, der festen Meinung, daß nur solche Großtaten die kulturtechnischen Sprünge ( wie sie von analoger zu digitaler Kulturtechnik heute geschehen) immer schon in sich bergen. Das, was zu Ende gebracht ist, zeigt einen neuen Anfang an. Was anderes ist wirklich vollendete Dichtung? Das profane Wort Sackgasse finde ich nicht so schlecht. Ich verstand das als Lobpreisung: die Größe Deiner Poesie beweist sich mir u.a., indem sie mir nicht „weiterschreibbar“ scheint – insofern eine fehlt, die Du ganz und gar ausfüllst, und wo ich jeden nachfolgenden Dichter, der sich weiterhin daran versuchen würde, zum Scheitern verurteilt finde (daraus können nur Arno Schmidts werden). Diese Totalereignisse, meine ich, überspringen auch die sozialen Revolutionen im System Kunst (sie bleiben, auch wenn sich die Milieus verschieben). Zugleich (und obwohl sie Singularitäten bedeuten), sind sie in Ansinnen eingebunden, die auch andere haben – ich meinte für Dich in „Literatur als Grundlagenforschung“: der ich andererseits aber nur bedingte Funktion zumessen kann, so sie nicht (wie Deine Poesie) schon den Funken ihrer Überwindung (nämlich ihre „Anwendbarkeit“) in sich trägt. So wage ich zu behaupten: „Salve Res Publica Poetica“ wird eines Tages paradigmatisch als multimediales Programm im Netz stehen.
Was damit auch gesagt ist: jede Rechtfertigung des Literaturbetriebes, er würde ja auch ein Werk von Paul Wühr begünstigen, ist Fassadenschwindel. Deine Poesie überflügelt ja im Gegenteil schon, was sich da gegenwärtig gegen die neue Mittelmäßigkeit zu behaupten versucht.
Prügel mich, aber kränke Dich nicht, ich bitte Dich. Ich schleppe mich auch sehr mühsam durch die Wochen, verkrieche mich im Donaukiesel, frage mich oft, was ich dauernd im Leben falsch mache, aber was solls. Scheint die Sonne und ist es warm, werde ich ganz zufrieden, fahre mit dem Boot die Donau hinauf und schau den Enten in der Au zu.

INGE POPPE-WÜHR

Le Pierle, 13. Mai 1999

Ihr Lieben,
tausend Dank für die ausführlichen Faxen. Jetzt ist Paul wieder total glücklich […]. Bei dem Heft vom Hessischen Literaturboten, das Paul mit seinen Freunden machen darf, mußt Du natürlich mittun. Es soll den lustigen Titel haben „Wühr, Czernin, Grond & Co. drehen ein Ding“ (die Poesie weiter, Du verstehst schon!).
Herrschaft und ansonsten halten wir ganz fest die Daumen, daß Christines Projekt weitergeht. Hast Du schon Reaktionen auf Dein Buch? Ich habe jetzt Klaus Hübner vom „Fachdienst Germanistik“ darauf aufmerksam gemacht, das könnte was bringen, da bleiben wir dran!
Herzliche Grüße und bacione für Saskia
Eure Inge + Paul

PAUL WÜHR

Passignano, Le Pierle, 24. Mai 1999

Lieber Walter,
ich schreibe – auch – deshalb, um wenigstens mit dem Stift dabeizusein, wenn das Hochwasser anrollt; wir hören und sehen alle Nachrichten und denken an Euch. Ich habe dann aber auch noch ein schlechtes Gewissen, weil Du doch bestimmt Deine Zeit für Dein Werk und Deine derzeitigen Auftritte brauchst: die Schreibe ist von Deinem riesigen Fax. Einige Mißverständnisse meinerseits haben ihre Ursache in deiner Lakonie. Du holst auch derart weit aus, um alles dann in »absoluter« Rasanz ganz plötzlich einzuholen – was soll ich folgern: man muß diese Schleifen oft erst aufrollen und langsam und ergänzend lesen. Ich habe solche Texte (lateinische, sagte ich früher ) sehr gern; lese ich aber über Dein und Mein Geschick: »Literatur«, dann fehlt mir die Geduld. So kam es zu meinem Schrecken, vor allem – Du hast vollkommen recht – zu meiner Verwechslung von dem »Mischmasch, das als Fragment nicht lügt« und dem wirklichen Mittelmaß des Kulturpessimismus. Nein, Deine Gedankenwelt ist nicht heillos verdreht, was Du ja selbst gar nicht glaubst. Für mich, was ich ganz vergessen hatte, waren Sackgassen geradezu heilig; siehe »Luftstreiche«. Du hast jedenfalls mit Deinem Brief keinen gemacht, sondern mich zurechtgefochten: Ich mußte lachen; das stimmt ja alles so, wie konnte ich nur so danebenlesen. In den letzten Tagen habe ich wieder – alles! – gelesen. Mit Deinem Brief zusammen sitze ich jetzt ganz abgeklärt über Deinen Texten, mich aber doch schämend: wie konnte ich so halbherzig herumhadern? Bitte, verstehe doch auch (mit Deiner in Dir doch auch vorhandenen Eitelkeit!) wie sehr ich mich – auch vor mir selbst – im Kreise drehte, wenn ich lesen durfte, was einer zum Größenwahn an sich schon veranlagten Natur doch gar nicht gesagt werden darf. Und jetzt habe ich es fertiggebracht, daß Du Dich insofern wiederholen mußtest! Was für eine schlimme Begabung. Laß mich das alles nicht noch näher erklären, es kommt nichts Bescheidenes heraus. Ich muß es nur einmal gestehen, weil es der wirkliche Grund für die Mißverständnisse ist. – So, Du siehst: nichts hast Du falsch gemacht. Ich wünsche Euch eine ordentliche Donau, eine maßlose Sonne und viele Bootsfahrten. Sei,
seid alle herzlich gegrüßt
Dein Euer Paul

WALTER GROND

Aggsbach Dorf, 23.11.1999

Lieber Paul,
Dein Brief hat mich ganz traurig gemacht; ich erinnere mich noch gut, wie ich mit Lucas Cejpek, Wilfried Prantner und anderen in Grazer Gasthäusern saß und wir über zweierlei Paul Wührs redeten, die wir als ein Lebens-Werk-Konzept betrachteten: den Dichter, der seine unvergleichliche Poesie schafft, und den Dichter, der nach Italien gegangen war (weg!) und doch eine unerschütterliche Verlagsheimat in München besaß, sozusagen eine unverrückbare hohe Kanzel, von der er herabreden konnte. Was Dir jetzt zustößt, ist ekelhaft. Aber ich denke, das hat im Grunde gar nichts mit den jungen Leuten heute zu tun. Zum Beispiel, mit den von Volker Hage im „Spiegel“ Bejubelten. Die müßtest Du ja auch nicht fürchten, wenn sie richtig gut wären. Die von allen beklagte Quotenwelt (mit ihren allerdings scheußlichen Folgen) wird ja von denen gebaut, die sie an vorderster Front bejammern: von den Schröders & Fischers des Literaturbetriebes wie Michael Krüger oder Volker Hage undsofort. Was ich die im Radio manchmal jammern höre über das untergehende Abendland. In Wirklichkeit sind sie es, die einen derart hohen Lebensstandard pflegen, den sie mit den Geldern finanzieren, deren Unkultur sie beklagen: all die 68er-Helden, zynisch geworden.
Ist schon schlimm. Ich bin froh, daß Du nicht weichst (das kannst Du ja gar nicht!), und ich hoffe, ich werde Dir eines Tages klar genug vermitteln können, daß ich auf meine Weise auch nicht weiche. Mich interessiert der Betrieb nicht mehr, ich lebe in Auszeit, denke und schreibe akribisch meine Vorstellung einer dritten Kultur weiter, und wenn auch nur, damit eines Tages Saskia die Gewißheit haben kann, daß Väterchen sich zwischen alle Stühle setzte eines Prinzips wegen: der angestrebten Erkenntnis. Die Zeit ist ja nicht blöd. Und bin ich Dir da nicht viel näher als mancher, der Dir nahe zu sein scheint? Mich interessiert nicht die Poesie der Poesiehandwerker, die dauernd nichts anderes tun, als das Bau-Gerüst ihres Handwerks auszustellen, mich interessiert die Erkenntnis. Und was ließe sich Klügeres finden, als die Erkenntnis des wirren Zopfes, ob nun die Herrschaften in ihrer midlife-Krise das verstehen oder nicht.
Du wirst im Frühjahr viel mit mir darüber reden müssen.

Erstveröffentlichung unter www.paul-wuehr.de, 2000